von amel
Die Regeln sind aber wirklich nicht einfach zu gestalten, müssen sie den Charakteren doch teilweise unglaubliche Fähigkeiten ermöglichen, ohne die Spielbalance zu gefährden. Chad Underkoffler („Dead Inside“, „Campaign in a Box“) hat sich mit seinem PDQ-System dieses Themas angenommen und ein Indie-Rollenspiel mit dem Titel „Truth and Justice“ produziert, das er auf der Homepage seines Verlages „Atomic Sock Monkey Press“ (www.atomicsockmonkey.com) als 133 Seiten lange pdf-Datei verkauft.
In der Einleitung verrät Underkoffler dem Leser, dass er versucht, die alten Einschränkungen zu überwinden, die die Umsetzung des Genres in Spiele, die ihre Kriegsspielwurzeln noch nicht ganz abgelegt haben, aufwirft. Ohne richtige Superkräfte (wie beispielsweise Batman) kann man dort den ‚echten‘ Superhelden wenig entgegensetzen, die Motivationen der einzelnen Helden gehen häufig verloren und auch sind dem Ideenreichtum in Konflikten oft Grenzen gesetzt – um nur einige der Probleme zu nennen. Diese Grenzen will Underkoffler mit „Truth and Justice“ überwinden.
Die ersten Grenzen hat er schon mit dem Layout hinter sich gelassen. Optisch ist das Spiel geradezu einen Supersprung von älteren Projekten wie „Dead Inside“ oder „Monkey, Ninja, Pirat, Robot: The RPG“ entfernt. Der Seitenaufbau ist vielleicht immer noch etwas altbacken, aber sämtliche Bilder sind einfach viel besser als bisher. Man muss nicht alles mögen, aber endlich ist die Grafik nicht mehr der hervorstechende Schwachpunkt seiner Spiele.
Auf den ersten 14 Seiten beweist Underkoffler, dass er das Genre kennt und liebt. Er erläutert dem Leser die Philosophie hinter „Truth and Justice“, klärt über verschiedene Spielstile auf und beschäftigt sich ausführlich mit den Klischees von Superheldengeschichten. An manchen Stellen mögen die Einsichten ins Genre ein wenig zu theoretisch wirken, am Ende werden sie aber immer praktisch ins Spiel umgesetzt.
Die eigentlichen Regelerklärungen beginnen auf Seite 15 und enden mit einem langen Kampfbeispiel auf Seite 66. Zunächst gibt es einen allgemeinen Überblick über die Regeln. Hier wird erklärt, wie man eine Probe durchführt, was die namensgebenden „Qualities“ des PDQ-(Prose Descriptive Qualities)-Systems sind, wie man Schaden erleidet und wie man stirbt. Jeder Spieler sucht für seinen Charakter eine Reihe von „Qualities“ aus, die die Grundlage für fast alles bilden, was er tut und was er ist. Diese Eigenschaften können Berufserfahrungen sein, aber auch Adjektive wie „stark“ oder normale Fertigkeiten. Jeder dieser Eigenschaften wird ein Würfelbonus bis zu +6 (meisterliche Eigenschaft) zugeordnet, der bei einer Probe zum Wurf von 2W6 addiert wird. Entweder man würfelt gegen einen Mindestwurf oder gegen einen Gegner, wobei im letzteren Fall das höhere Ergebnis gewinnt. Bei einem Konflikt – sei es ein richtiger Kampf oder ein Wortduell – würfeln der Angreifer und der Verteidiger. Wenn der Angreifer das bessere Ergebnis erzielt, erhält der Verteidiger Schaden auf eine beliebige Eigenschaft. So seltsam es klingt, aber man kann Schaden an seiner guten (+2) Debattierfertigkeit erleiden, wenn einem ein Gegner ordentlich auf die Mütze haut. Für Spieler, die Lebenspunkte gewöhnt sind, mag dies zunächst etwas gewöhnungsbedürftig erscheinen, aber es funktioniert ganz hervorragend. Auf diese Weise können mit einem einzigen System Konflikte verschiedenster Art ausgetragen werden, vom Schachspiel über den klassischen Nahkampf bis hin zu Verführungsversuchen.
Kenner der anderen PDQ-Spiele wie „Dead Inside“ werden neben Altbekanntem auch einiges Neues entdecken. So gibt es neben den „Qualities“ nun auch „Powers“, also die Superkräfte der Helden, mit denen man teilweise recht ausgefallene Dinge, so genannte „Stunts“ machen kann. Will ein Charakter beispielsweise seine Wetterkontrollfähigkeiten („Power“) nutzen, um sich von einem Zyklon durch die Lüfte tragen zu lassen, so wäre dies ein „Stunt“. „Hero Points“, eine weitere Neuerung, können eingesetzt werden, um Würfelchancen zu verbessern.
Die Charaktererschaffung wird sehr genau in einem eigenen Kapitel beschrieben. Ganz genregerecht müssen neben Aussehen und Eigenschaften auch beispielsweise eine Uniform (roter Schlafanzug oder bequeme Straßenkleidung?) und ein Codename ausgewählt werden. Außerdem kann ein Spieler Einschränkungen und Schwachstellen wählen. Dafür erhält er allerdings keine Zusatzpunkte bei der Charaktererschaffung wie in vielen anderen Systemen. Stattdessen erhält ein Spieler immer, wenn eine dieser Einschränkungen im Spiel auftauchen „Hero Points“ – ein genialer Schachzug, hat der Spieler so doch einen direkten Ausgleich im Spiel und fühlt sich nicht bestraft, wenn der Spielleiter seine Kupferallergie ins Spiel bringt, indem er einen Gegner mit einem Nagelschussgerät und Kupfernägeln auftauschen lässt.
Die Superkräfte und ihre genaue Handhabung erhalten natürlich ein eigenes Kapitel, in dem viele Beispiele aufgelistet und beschrieben werden. Die Kräfte sind sehr allgemein gehalten, so dass es nicht schwer fällt, eigene Kräfte daraus abzuleiten, ob der Schaden nun von einem Strahl aus Eis oder Feuer kommt, ist regeltechnisch schließlich vollkommen egal.
Das nächste Kapitel behandelt Konflikte aller Art. Spätestens hier zeigt sich, dass Underkoffler nicht nur ein weiteres 08/15-Spiel entwickelt hat. Den speziellen Eigenschaften von Konflikten zwischen Superhelden wird in vielen Punkten Rechnung getragen und das ohnehin schon sehr gut geeignete PDQ-System noch weiter angepasst und verfeinert. Ist man am Ende des langen Kampfbeispiels angekommen, bleibt das Gefühl, ein Regelwerk in den Händen zu halten, das das Genre ausgezeichnet einfängt.
Doch nach den Regeln ist erst die Hälfte des Buches erreicht. Das direkt folgende Spielleiterkapitel sammelt solide Tipps zu einzelnen Punkten des Spielleiterdaseins wie Abenteuer- und NSC-Erschaffung. Zwar hatte ich bei der Lektüre keinen Aha-Effekt wie in einigen anderen Kapiteln des Buches, aber allgemeines Blabla, wie wir es schon tausend mal gelesen haben, bleibt uns erspart.
Bevor es abschließend zu einer sehr nützlichen Sammlung an Tabellen geht, die als Inspirationshilfe bei Kreativitätsstau eingesetzt werden können, bekommt der Leser noch drei Settings geliefert. „Second String Supers“ platziert die Charaktere in Drakesville. Die Stadt wurde von dem großen Helden „Dragon Knight“ geschützt, der dort auch neue Helden ausbildete. Doch nun muss er sich der „Justice Alliance“ im Kampf gegen eine fruchtbare Gefahr anschließen und überlässt es seinen Schülern, den Charakteren, die Stadt zu schützen. Als Helden in zweiter Reihe müssen sich diese nun gegen ein paar Superbösewichte behaupten bis der Drachenritter zurückkommt. Die Kurzbeschreibung einiger Episoden (Abenteuer) bildet den Abschluss der üblichen Mischung aus Stadtbeschreibung, Infos über die Superkräfte und Aliens.
Mein Favorit der drei Beispielsettings sind die „Supercorps“. Große Konzerne beherrschen die Welt und beschäftigen dementsprechend auch Superhelden. Es gibt natürlich auch ‚normale‘ Superhelden und Superbösewichte, aber ein großer Teil der Supertypen arbeitet für Firmen als „Superconsultant“. Dem üblichen Mix an Abenteuern wird so eine neue Ebene hinzugefügt. Das einleitende Szenario ist leider etwas schwach, kann aber immerhin einen ersten Eindruck vermitteln.
Mit „Fanfare for the Amplified Man“, dem letzen Kampagnenbeispiel, kann ich leider nichts anfangen. Die Charaktere sind dank eines Gegenstandes – des „Amplifiers“ – der ihnen von einer äußeren Macht zugespielt wird, die einzigen Superhelden der Welt. Was werden die Charaktere mit dieser Macht tun, werden sie versuchen eine neue, bessere Welt zu schaffen oder werden sie selbst zu Superbösewichten? Der Ansatz widerspricht völlig meiner Ansicht, dass Abenteuern eine Richtung gegeben werden muss, damit sie einigermaßen strukturiert ablaufen können, doch Freunde von sehr freien Geschichten werden im Gegensatz zu mir bestimmt ihren Spaß an der Kampagne finden.
Fazit: Das abschließende Wort für die Rezension ist diesmal einfach gefunden: „Cool!“. „Truth and Justice“ erlaubt den Spielern ein hohes Maß an Kreativität nicht nur während der Charakter-erschaffung, sondern während des gesamten Spiels. Die Vorteile des PDQ-Spielsystems werden von Underkoffler um viele kleine Neuerungen erweitert, die ein Superheldenspiel auf großartige Weise unterstützen. Man darf nur nicht außer acht lassen, dass wie bei allen Systemen mit sehr mächtigen Charakteren ein hohes Maß an Vertrauen zwischen Spielern und Spielleiter vonnöten ist. Mein Tipp kann nur lauten: Spielt „Truth and Justice“! Es wird euch bestimmt gefallen.
Truth and Justice
Grundregelwerk
Chad Underkoffler
Atomic Sock Monkey Press 2005
133 S., pdf-Datei, englisch
Preis: $ 13,00
bei atomicsockmonkey.com bestellen
