The World of Darkness

Die World of Darkness ist untergegangen – lang lebe „The World of Darkness“! Nachdem die Herren eines der erfolgreichsten und produktivsten Rollenspiel-Universen der letzten Jahre ihrer Schöpfung überdrüssig geworden waren und sie die große Chronik der Vampire, der Werwölfe und der Magi in einem gewaltigen Untergangsszenario beendet hatten, startet nun seit letzten Herbst eine generalüberholte Welt der Dunkelheit durch. Wird nun alles ganz anders oder doch erwartet uns doch „nur“ das gute Alte im neuen Gewand?

von Bernd Perplies

Ohne alle Details bereits zu kennen und daher beurteilen zu können, wirkt es auf den ersten Blick so, als hätte man bei White Wolf vor allem die große Menge an Material in eine neue, straffere Ordnung bringen wollen. So ist das neue Universum – im Augenblick – erheblich besser strukturiert und konzentriert. In der Mitte steht das „World of Darkness“-Grundregelwerk, ein 200 Seiten starker Hardcoverband, der übergreifend für alle Settings das Regelgerüst anbietet (und sonst nichts!). In dieses schon fast Universalregelwerk fügen sich die drei wesentlichen Settings „Vampire“, „Werewolf“ und „Mage“ ein, die sich in der alten World of Darkness als am erfolgreichsten erwiesen hatten und daher auch in der neuen Edition als drei Säulen des Universums bestehen bleiben. Von den zahlreichen Auswüchsen, die das alte System zwischenzeitlich hervorgebracht hatte („Mummy“, „Wraith“, „Changeling“, „Hunter“ usw.), ist zunächst einmal nicht mehr die Rede.

Doch zurück zum Grundregelwerk. Das Layout von WW-Produkten gehörte schon immer zu den besseren der Rollenspielzunft. Mit der neuen World of Darkness wird die Messlatte noch ein ganzes Stück nach oben gesetzt. Das Grundregelwerk ist in düsterem Schwarz-Blau gehalten, Collagen aus unscharfen Szenen lassen die Grenze zwischen Zeichnungen und Photo-Verfremdungen verschmelzen, deuten an, ohne wirklich zu zeigen, und beschwören damit exakt das unterschwellige Grauen herauf, das die Spielatmosphäre beherrschen soll. Die Schriftfetzen sind dabei im gerade so modernen Folienaufdruck auf den Einband geprägt und versetzen einen Buchliebhaber wie mich regelrecht in Verzücken. Einziger Wermutstropfen: Der Einband hat keine Schutzbeschichtung, ist also sehr anfällig für Kratzer, Schmierer und Abrieb – was sich scheinbar auch dann nicht vermeiden lässt, wenn man das Buch mit Samthandschuhen anfasst (und wer will das schon?).

Im Inneren setzt sich das stimmungsvolle Layout fort. Dabei wird vor allem mit Zierrändern, Überschriften und sehr schönen Illustrationen gearbeitet – die Übersichtlichkeit leidet darunter nicht. Eine Außnahme bildet hier nur das erste Kapitel, in dem sich die Macher ein wenig austoben und in einer Ansammlung von Fake-Berichten in unterschiedlichsten Schriftarten und -graden den Leser in den subtilen Schrecken der Welt der Dunkelheit einführen. Diese Einführung ist wirklich gelungen und auch wenn sie eher Hinweise und Schnipsel als einen vollständigen Überblick liefert, bekommt man doch einen guten Eindruck von der vorherrschenden Stimmung, die ein bisschen an frühe Folgen der TV-Serie „Akte X“ erinnert (als noch die Horrorelemente, nicht die Regierungsverschwörung, im Mittelpunkt der einzelnen Episoden standen). Nur der Grad des Schreckens ist etwas größer, denn hier sind die Monster echt und die Sterblichen normalerweise keine Kanonen schwingenden FBI-Agenten.

Auf Seite 32 beginnen dann die eigentlichen Regeln. Sehr schön sind dabei die acht Übersichtsseiten, die bereits vorweggreifend die wichtigsten Mechanismen und Proben zusammenfassen, um dem Spielleiter einen raschen Blick zu ermöglichen, wo es Not tut. Dann geht es los mit der Charaktererschaffung und hier muss man schon sagen: Vieles kommt einem bekannt vor. Noch immer werden kleine Kreise schwarz ausgemalt, um damit die eigene Attributs- oder Fertigkeitsstufe anzugeben, noch immer bestimmt der W10 das Geschehen, noch immer heißt es, Erfolge zu sammeln, indem man aus einem Pool aus W10, der normalerweise dem Wert eines Attributs und einer Fertigkeit, modifiziert durch Ausrüstung und Umstände, entspricht, so viele 7er und höher wie möglich würfelt. Für jede 10 darf man noch einmal würfeln und erhöht so die Chance auf viele Erfolge, die 1 allerdings ist kein Erfolgekiller mehr, sondern ein schlichter Misserfolg. Zum dramatischen Misserfolg wird sie erst, wenn sich ein Spieler auf einen „chance roll“ einlässt, also mit einem Würfelpool von eigentlich Null (der z.B. durch massive negative Modifikatoren entsteht) an eine Aufgabe herangeht. In diesem Fall darf er einen Würfel werfen. Hat er Erfolg, alles klar, Misserfolg, Pech gehabt, aber würfelt er eine 1, dann darf der Spielleiter alle Register einer zünftigen Katastrophe ziehen. Aber das alles sind eigentlich schon Spielmechanismen... nochmal zurück zur Charaktererschaffung.

In „World of Darkness“ gibt es drei Attributsgruppen („Power“, „Finesse“ und „Resistance“), zu der jeweils drei Attribute („Mental“, „Physical“, „Social“) gehören. Eine 9er-Matrix also. Darunter finden sich natürlich so Klassiker wie „Strength“ (Power / Physical) und „Intelligence“ (Power / Mental), aber auch so ungewöhnliche Attribute wie „Composure“ (Resistance / Social), was so viel wie die Fähigkeit, unter Stress Ruhe zu bewahren bedeuten soll, oder „Resolve“ (Resistance / Mental), die Fähigkeit, ein klares Langzeitziel vor Augen zu behalten und sich selbst treu zu bleiben, ungeachtet von Beeinflussungen anderer (übrigens nicht zu verwechseln mit „Willpower“, was es auch gibt und eher die Kurzzeit-Entschlossenheit des Geistes bedeutet). Ein schönes Raster zweifelsohne, aber meines Erachtens etwas forciert.

Natürlich gibt es auch eine ganze Reihe Fertigkeiten, die allesamt mit einer ausführlichen Beschreibung und mit ihnen verknüpften Spielmechanismen aufwarten – man kennt das aus dem d20-System. Hilfreich für den Spielleiter sind die kurzen Hinweise zu den Auswirkungen von Würfelergebnissen. Eher Zeichenschinderei, wenn auch nicht unwillkommen in diesem dichten Block an Regeln, sind die zahllosen kleinen Erzählszenen, die beispielhaft die Anwendung der Fertigkeiten vorführen und dabei nicht selten ein ganz klein bisschen fies sind.

In Kapitel 4 „Advantages“ werden die sekundären Attribute wie „Defense“, „Health“, „Initiative“ usw. erklärt und ermittelt, wobei der „Defense“-Wert eines Ziels sich hier als Malus auf den Würfelpool des Angreifers auswirkt – zumindest im Nahkampf –, nicht als Mindestwurf wie im d20-System. Das vielleicht wichtigste Konzept ist „Morality“. Die Moral eines Charakters in einer Welt der Dunkelheit ist der vielleicht bedeutendste Maßgeber für sein Handeln. Auf einer Skala von 1 bis 10 lässt ein hoher Wert nur redliches Tun zu, wird aber mit geistiger Stabilität vergolten. Ein niedriger Wert bringt einen in die Gesellschaft der Verbrecher und Monster. Derlei Degeneration fordert ihren Tribut aber in Form von so genannten „Derangements“, also Knacksen und Rissen im Oberstübchen, die sich in Depressionen, Größenwahn oder Paranoia äußern. Natürlich ist all dies heilbar – bei entsprechendem Verhalten des Charakters.

Ein weiteres Konzept, dass man von früher kennt, ist die „Willpower“. Durch den Einsatz von „Willpower“-Punkten erhält ein Spieler zusätzliche W10, die sein Charakter, sozusagen bis zum äußersten entschlossen oder übermenschlich angespornt, verbraten kann, um die Welt, einen Freund – oder wenigstens die eigene Haut – zu retten. Damit verknüpft sind die „Virtues and Vices“, die Tugenden und Laster. Jeder Charakter folgt, global gesprochen, einer bestimmten Tugend und hat ein bestimmtes Laster (es existieren jeweils sieben – was sonst...). Verhält er sich selbigen entsprechend, gibt ihm das ausgegebene „Willpower“-Punkte zurück. Die Tatsache, dass ein Charakter sowohl in einer Tugend besonders hervorsticht, als auch einem Laster frönt (ab und zu) und für beides belohnt werden kann, gefällt mir, denn es sorgt für Helden von zweifelhafter Natur, die der unsicheren Balance zwischen Gut und Böse innerhalb der ganzen World of Darkness gut entsprechen. So wird aus dem rechtschaffenen Gesetzeshüter mitunter der wütende Rächer und die umsichtig und zurückhaltend agierende Wissenschaftlerin mag insgeheim vom Neid zerfressen werden auf all die „Flittchen“, die so viel gedankenlosen Spaß im Leben haben.

Ich kürze ein bisschen ab: In Kapitel 5 „Merits“ wird der Charakter abschließend mit einigen Vorteilen ausgestattet, die seltsamerweise auch Kampfsportarten umfassen – aber seit d20 die „Feats“ eingeführt hat, wundere ich mich ja über gar nix mehr –, Kapitel 6 widmet sich dann den „Dramatic Systems“, den Spielmechanismen, die ich oben schon grob umrissen habe, die aber natürlich um Seiten komplexer sind (ich sage nur „Instant Actions“, „Extended Actions“, „Contested Action“, „Reflexive Actions“, „Teamwork“ usw.). Daran schließen sich direkt ein paar Regeln zu „Objects“ und „Equipment“ an, die aber sehr abstrakt bleiben. Preislisten zum Einkaufen gibt es z.B. nicht. Diese mögen entweder in den Quellenbüchern nachgeliefert werden oder vielleicht fehlen sie auch ganz. Ein Burger-Sparmenü wird letztendlich in der World of Darkness ebenso 4,95 Euro kosten, wie in unserer Welt.

Ab Seite 150 folgen exakt 20 Seiten Kampfregeln, die erneut keine Fragen offen lassen und sogar Nahkampfregeln für Schusswaffen aufstellen! Welcher Hobby-Brujah hier nicht glücklich wird, ist echt ein hoffnungsloser Fall. Natürlich wird auch ausführlich beschrieben, wie man Schaden nimmt und heilt (der Schadensstufen gibt es gleich drei: „bashing“, „lethal“ und „aggravated“ – oder „betäubend“, „tödlich“ und „kritisch“) und den Abschluss bilden eine Reihe der allseits bekannten Umweltbedingungen, die einem Charakter Kopfschmerzen und mehr bereiten können, wie Kälte, Hitze, Strahlung, Gift usw.

Das letzte Kapitel ist dann für den Spielleiter und gibt ihm die obligatorischen Tipps zum guten Erzählen sowie eine Reihe Antagonisten/NSC zur Hand, die von Tieren über Gangster bis hin zu Geistern reichen. Geister sind übrigens die einzigen übernatürlichen Wesenheiten, denen das Grundregelwerk ein paar Seiten widmet. Sie scheinen die Basis für ein Rollenspiel in der puren „World of Darkness“ zu sein, was einmal mehr das „Akte X“-Feeling bestärkt. Alle anderen Geschöpfe der Nacht treten erst in den spezifischen Kampagnenbüchern hinzu.

Ein Index und die einseitige Charakterkarte bilden den Abschluss des Buches.

Fazit: Das Rückgrat der neuen World of Darkness, das optisch wirklich sehr ansprechende „World of Darkness“-Grundregelwerk bietet auf 200 Seiten Regeln satt – und sonst fast nichts! Diese sind allerdings wirklich sehr detailliert ausgeführt und mit geradezu vorbildlich vielen Beispielen versehen und sie decken auch scheinbar die letzte Eventualität ab (mein privates Highlight: wie viele Runden ein Angreifer zu Fuß versuchen darf, auf ein vorbeirasendes Auto zu springen). Entsprechend liest sich das Ganze über weite Teile ungefähr so spannend wie ein Telefonbuch – ist aber auf der anderen Seite nicht minder unentbehrlich! (Okay, diese Analogie geht davon aus, dass Telefonbücher wichtige Nachschlagewerke im Rahmen einer kommunikativen Freizeitgestaltung sind – womit sie ein ganz kleines bisschen Rollenspiel-Grundregelwerken ähnen.)

Der einzige Witz liegt meines Erachtens nur im Begriff „storytelling system“, den die „World of Darkness“ nach wie vor für sich beansprucht. Dafür, dass sich White Wolf das Vorrangige des Geschichtenerzählens so sehr auf die Fahnen geschrieben hat, stellt ein ganzes Buch bis Oberkante Klappendeckel voll mit Regeln eine fast schon zynische Unterminierung der Spielphilosophie dar. Na ja, man kann glücklicherweise weglassen, was einem zu speziell erscheint. Und am Ende ist es natürlich besser, eine Regel zu viel zu haben, die man ignoriert, als eine zu wenig, die man dringend im Spiel gebraucht hätte. Insofern sind all die Blicke auf Details schon wieder lobenswert.

Wer neu in die World of Darkness einsteigen will, kommt an dem Buch definitiv nicht vorbei. Ganz einfach. In gewissem Maße hält er auch schon ein vollwertiges Rollenspiel in den Händen – sofern er auf Vampire und Co verzichten kann. Wer bereits in der alten World of Darkness beheimatet ist, sollte sich überlegen, ob er umsteigen will. Natürlich wird ab jetzt alles hübscher und durchdachter präsentiert. Auch ist das Spielsystem an verschiedenen Stellen schneller und klarer geworden. Am Ende wurde das System aber nicht grundlegend geändert. (Mal sehen, wie es inhaltlich dann aussieht...)


The World of Darkness
Grundregelwerk
Bill Bridges, Rick Chillot, Ken Cliffe, Mike Lee
White Wolf 2004
ISBN: 1-58846-484-9
222 S., Hardcover, englisch
Preis: $ 24,99

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