Straßenlegenden

Eigentlich ist es für einen Shadowrunner gar nicht erstrebenswert, in aller Munde zu sein. Die Konzerne geben sich extra viel Mühe, einen im Blick zu behalten. Man keinen seinen Bekannten noch weniger trauen als zuvor, denn die interessieren doch nur die guten Jobs, die man kriegt. Zudem kriechen diese Kerle aus ihren Löchern, die denken, sie werden selbst berühmt, wenn sie einen umlegen. Und dennoch gibt es sie: die Leute, von denen hinter vorgehaltener Hand geredet wird. Deren Taten sie zu Legenden gemacht haben. 30 von ihnen ist dieses Quellenbuch gewidmet.

von Frank Stein

Von produktionstechnischer Seite hat sich dieser Band absolut nichts vorzuwerfen. Der 210 Seiten umfassende, rote Hardcoverband (rot steht für reines Hintergrundmaterial und war bislang allein dem „Almanach der sechsten Welt“ vorbehalten) kommt in Vollfarbe daher und ist reich illustriert, wobei eigentlich alle Illustrationen von für „Shadowrun“ ungewöhnlich hoher Qualität sind – man fühlt sich fast an „D&D“ erinnert. Inhaltlich wird eine Mischung aus acht Kurzgeschichten und 30 Personenprofilen geboten.

Inhaltlich hingegen kann man einige grundsätzliche Kritik anbringen. Zum einen finde ich, dass die meisten der porträtierten Persönlichkeiten zu glatt wirken. „Shadowrun“ war mal eine Welt voller Cyberpunks, voll extrovertierter Typen, die mit Tribals im Gesicht, mit David-Bowie-Frisur und Hot Pants unterm gepanzerten Mantel herumliefen. Es waren unangepasste, schräge Gestalten, für die Schattenlaufen auch immer ein Akt anarchistischer Rebellion bedeutete. In diesem Buch sehe ich überall Leute in Anzügen und Krawatte. Coole Burschen, wie Neo und Konsorten aus dem Film „Matrix“. Profis, zweifellos, aber ohne jeden visuellen Charakter. Das finde ich schade. Natürlich gibt es Ausnahmen, wie den aristokratischen Winterhawk und die untot wirkende Hannibelle. Aber viel zu wenige.

Zum zweiten muss ich leider sagen, dass der Legenden-Status dieser Leute zumindest für den „Shadowrun“-Neuling nur behauptet, aber nicht belegt wird. Sind diese 30 wirklich im „Shadowrun“-Universum so berühmt, wie Victor Steiner-Davion und Grayson „Death“ Carlyle bei „BattleTech“ oder Galotta und Answin von Rabenmund bei „DSA“? Leider lässt sich das schwer sagen, denn es fehlt – in meinen Augen unverzeihlich – ein Kasten, der die Quellenlage zu den Berühmtheiten geklärt hätte? Vielleicht liegt es daran, dass ich vor allem ältere „Shadowrun“-Romane kenne, aber außer Kellan Colt und einer Reihe Drachen, wie Lofwyr, Nebelherr, Kaltenstein und Hestaby, sprang mir nun kein Name ins Auge.

Ein wenig Recherche im Netz sorgt hier zumindest teilweise für Klärung. Tatsächlich sind relativ wenige Romanhelden in dem Buch versammelt. Außer Kellan Colt konnte ich noch Tommy Talon („Am Kreuzweg“, „Ragnarrock“ und „Zeit in Flammen“) sowie Serrin Shamandar („Blutige Straßen“, „Nosferatu 2055“ und „Schwarze Madonne“) auf die Schnelle ermitteln. Die meisten anderen Legenden sind Shadowtalker, also Leute, die für Artikel und Kommentare im Jack Point verantwortlich sind, jenem fiktiven Netzwerk, aus dem scheinbar alle „Shadowrun“-Rollenspielbücher hervorgehen. Letzten Endes mag das konsequent sein, denn da es seit Jahren keine neuen „Shadowrun“-Romane gibt, müssen sich die neuen Helden ja aus dem Fluff Text der Regelwerke rekrutieren. Doch irgendwie mangelt es diesen Leuten in meinen Augen an Status. Was nützt mir als SL eine Straßenlegende, die keinem meiner Spieler etwas sagt? In dem Fall könnte ich jeden beliebigen NSC im Abenteuer auftauchen lassen. Denn letzten Ende sind all die Porträtierten nichts anderes als besonders gut ausgearbeitete NSC (samt Lebenslauf, Kommentaren, Spielwerten und Illustration).

Die eingestreuten Kurzgeschichten machen Spaß und vermitteln Atmosphäre, wenn sie auch – aufgrund ihres Umfangs – mitunter sehr gedrängt erzählt wirken. Manchen von ihnen hätte man mehr Raum zur Entfaltung gewünscht. Ein Bonus, aber für mich kein zusätzlicher Kaufgrund.

Fazit: „Straßenlegenden“ ist produktionstechnisch ein wirklich tolles Buch geworden, dessen realer Spielwert sich aber in meinen Augen in Grenzen hält. „Shadowrun“-Anfängern gibt dieses Buch gar nichts, denn die meisten Protagonisten werden ihnen schlicht unbekannt sein – sieht man von einigen Drachen ab, die wirklich sehr präsent in diesem Universum sind. Als reine NSC verwendet (ohne Legenden-Bonus) sind mir viele der Charakterkonzepte indes nicht mutig, nicht verrückt genug. Interessant ist dieses Buch daher höchstens für Veteranen, die ihren Spaß daraus ziehen mögen, ein paar „große Namen“ in ihre Kampagne einzuflechten, wobei „groß“ hier überwiegend bedeutet, dass die Burschen aktive Shadowtalker sind – oder eben Drachen. Romanhelden – eine Klasse von NSC, die mich persönlich eher reizen würde – findet man, nicht zuletzt aufgrund der beklagenswerten Romanpolitik von Catalyst in den letzten Jahren, kaum.


Straßenlegenden
Quellenbuch
Steven Kenson, Jason M. Hardy, Patrick Goodman u.a.
Pegasus Press 2012
ISBN: 978-3-941976-47-4
210 S., Hardcover, deutsch
Preis: EUR 34,95

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