Shadows over Normandie

In letzter Zeit ist – gerade bei Kickstarter – ein neuer Trend aufgekommen: Spiele-Universen-Cross-Over. Da tauchen schon mal „Super Dungeon Explore“-Chibi-Miniaturen als Add-On für das „Mutant Chronicles“-Brettspiel „Siege of the Citadel“ auf. Oder „Conan“-Miniaturen werden zu „Mythic Battles“ angeboten. Ein besonders konsequentes Game-Cross-Over ist „Shadows over Normandie“, ein Brettspiel, das das taktische WWII-Spiel „Helden der Normandie“ mit dem Rollenspiel-Setting „Achtung! Cthulhu“ vermischt. Wir haben uns auf der Jagd nach Tiefen Wesen in die Sümpfe von Frankreich aufgemacht.

von Frank Stein

Das Motiv der Spielebox verspricht schon viel: Kernige Soldaten und eine furchtlose Agentin kämpfen gegen verrückte Kultisten, die umgeben von unheiligen Kreaturen vor dem Hintergrund einer nächtlichen Kirchenruine eine Jungfrau opfern wollen. Welcher Genre-Fan fühlt sich davon nicht angesprochen? Im Inneren erwartet einen eine angenehme Überraschung, denn die Box ist tatsächlich fast randvoll mit Spielmaterial. Platz wird hier nicht verschwendet. Sechs doppelseitige Spielpläne, drei Kartendecks, Würfel, Holzmarker und unglaublich viele Pappmarker, die Einheiten, Gelände, Fahrzeuge, Zustände, Zauber, Ausrüstung und mehr repräsentieren, lassen das Spielerherz höher schlagen. Dabei ist das Spielmaterial erfreulich hochwertig in Optik, Druck und Stabilität. Insofern lässt sich das Fehlen der heutzutage schon fast automatisch erwarteten Plastik-Minis absolut verschmerzen.

Ein 20-seitiges Regelwerk will uns das Spiel näherbringen, ein 24-seitiges Szenariobuch enthält die Kampagne „Das verschollene Bataillon“, die 10 Szenarien umfasst. Und hier offenbart sich die Herausforderung des Spiels. „Shadows over Normandie“ ist echt old-school, im positiven, wie im negativen Sinne. Es bietet unglaublich viele Möglichkeiten – Gelände, Ausrüstung, Zauber, Spezialfähigkeiten in rauen Mengen, Fahrzeuge, Nebel, Dunkelheit, Gebäude –, die mit einer Menge an kleinteiligen Sonderregeln einhergehen. Einheitsmarker, auf denen erstmal sechs verschiedene Symbole abgedruckt sind, und Gelände, die mitunter wahre Wucherungen an interpretierbaren Symbolen zu Bewegungseinschränkungen und Sichtlinie aufweisen – das ist man heute kaum noch gewöhnt, obwohl sie eigentlich sehr praktisch sind, weil man für alle Sonderregeln, die z.B. mit einem Sumpf einhergehen, gleich einen Hinweis erhält, statt sie sich auswendig merken zu müssen. Auch gesonderte Charakterkarten mit Schlüsselwörtern, die man, wenn man ihre Bedeutung nicht weiß, letztlich ebenso nachschlagen muss, wie die Symbole auf den Einheitsmarkern, kann man sich so sparen.

Dennoch: Gelegenheitsspieler und Menschen, die nicht bereit sind, sich in ein System reinzufuchsen, dürften sich hier schnell überfordert fühlen, zumal das Regelwerk leider ein Schwachpunkt des Spiels ist. So fehlt es an einer ordentlichen Spielkomponentenauflistung, es gibt keinen Index, das geniale, aber etwas gewöhnungsbedürftige Konzept der Rekrutierungs-Displays und -Optionen wird viel zu knapp erklärt und das auch noch im Kampagnenbuch statt im Regelheft. Auch wichtige Regeln wie „Moral“ oder „Ziele“ finden sich in ersterem, obwohl sie dort nichts verloren haben. Mitunter fehlen einfach Informationen oder sie sind verwirrend formuliert oder sie sind völlig unnötig, weil sie sich auf „Helden der Normandie“-Spielmaterial beziehen (das voll kompatibel ist, aber eben nicht in der Box enthalten).

So wird beispielsweise nicht erklärt, ob man in Szenarien das komplette Deck Aktionskarten nutzt oder pro Partie Karten auswählt. Außerdem bekommt der Tiefe-Wesen-Spieler in den ersten Szenarien Totems, die beim Zaubern helfen, obwohl man noch gar keine Zauber hat. Es wird auf Einheiten mit Feuerwinkel Bezug genommen, ohne dass es eine einzige davon in der Box gäbe (nehme ich an, es war zumindest auf keine Einheit ein Feuerwinkel eingezeichnet). Und dann finden sich Formulierungen wie: „Wenn du eine Ausrüstungs-Option einem Offizier-Rekrutierungs-Display zuweist, steht diese allen Einheiten deiner Armee zur Verfügung.“ Und zwei Sätze später: „Ausrüstung kann von Einheiten genutzt werden, die diesem Rekrutierungs-Display zugewiesen sind sowie von allen Helden deiner Armee.“ Ja, zwischen einem Offizier-Rekrutierungs-Display und einem Rekrutierungs-Display besteht ein feiner Unterschied, aber er ist so fein, dass man schon genau lesen muss, um nicht irritiert zu sein.

Weitere kleine konzeptuelle Mängel sind etwa eine Kampagne, die von Szenario 1 bis 9 mit 2 Spielern gespielt werden kann, nur für Szenario 10 aber zwingend 3 Spieler vorsieht. Außerdem werden Wahnsinns- und Suchbeutel gefordert, die in der Box aber fehlen. Es gab sie: als Bonus beim Kickstarter, aus dem „Shadows over Normandie“ geboren wurde. Doch in die gewöhnliche Handelsversion haben sie es nicht geschafft, ein echter Lapsus.

Lässt man sich jedoch von all dem nicht schrecken, wird man mit einem ziemlich schicken und atmosphärischen Spiel belohnt, das überhaupt nicht so kompliziert ist, wie es sich gibt. Zumindest dann nicht, wenn man sich an die Kampagne hält, die Szenario für Szenario den Komplexitätsgrad erhöht und einem so ein gemächliches Erlernen der Regeln ermöglicht. So ist etwa Szenario 1 eine schlichte Begegnung im Sumpf. Ein Scout- und ein Ranger-Squad der US-Truppen unter dem Befehl von Held „Two Guns Bob“ stolpern über eine Miliz aus Tiefen Wesen, die im Sumpf um ein unheiliges Totem versammelt ist. Ja, man muss auf Deckung und Sichtlinie achten. Aber damit hat es sich fast schon. Nichts, was Kennern von taktischen Miniaturenspielen nicht tagtäglich begegnen würde.

Gespielt wird in Runden zu jeweils 3 Phasen: Befehlsphase, Aktivierungsphase und Versorgungsphase. In der Befehlsphase werden Einheiten Befehlsmarker in Form von Holzklötzchen zugewiesen, die verdeckt gelegt werden, denn auf der Rückseite befindet sich eine Zahl, die die Reihenfolge der Aktivierung angibt. Freie Befehle stehen einem je nach Armee oder Szenariobeschreibung zur Verfügung. In Szenario 1 beispielsweise haben beide Seiten je 3 Befehle, die aber durch Aktionskarten und anderes modifiziert werden können. In der Aktivierungsphase werden nacheinander die Einheiten aktiviert. Sie können sich dann entweder bewegen und/oder einen Nahkampf durchführen, feuern oder nichts tun. Kämpfe werden durch Würfelwürfe entschieden, die entweder vergleichend (Nahkampf) oder gegen einen Zielwert (feuern) stattfinden und durch Gelände, Einheitenboni und sonstige Umstände modifiziert werden. Schäden sind ziemlich schnell tödlich. Mehr als 2 Lebenspunkte hat eigentlich keine Infanterieeinheit.

In der Versorgungsphase dürfen sich alle Einheiten bewegen, die zuvor nicht aktiviert wurden. Es werden Proben auf Terror gemacht, schließlich sind wir hier in einem cthuloiden Setting. Handkarten werden abgeworfen und gezogen und überhaupt finden Effekte zum Rundenende ihre Anwendung. Danach geht es mit der nächsten Runde weiter, bis eine Partei den Spielsieg errungen hat oder die vorgeschriebene Zahl der Spielrunden durch ist. Das alles ist kein Hexenwerk, und wenn man das elegante Kernkonzept erst mal begriffen hat, fällt es einem auch weniger schwer, sich an die ganzen Zusatzmöglichkeiten heranzuwagen.

Fazit: „Shadows over Normandie“ ist nichts für Gelegenheitsspieler oder Spieler mit geringer Frustrationsschwelle. Dafür ist die Einstiegshürde Dank des komplexen und etwas ungeschickt aufgemachten Regelwerks zu hoch. Wer aber diese erste Hürde genommen hat, der wird mit einem sehr schicken Genre-Taktikspiel belohnt, das eine hübsche Optik mit qualitativ hochwertigem Spielmaterial und cooler Atmosphäre paart. Ganz abgesehen davon ist „Shadows over Normandie“ voll kompatibel mit „Helden der Normandie“, sodass man auf eine Unmenge an weiterem Spielmaterial und Online-Szenarien zugreifen kann. (Das meiste davon aktuell leider nur auf Englisch.)


Shadows Over Normandie
Brettspiel für 2 bis 3 Spieler ab 14 Jahren
Yann & Clem
Devil Pig Games/Asmodee 2016
EAN: 5060377583051
Sprache: Deutsch
Preis: EUR 59,99

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