Shadowrun 64: Im Namen des Herrn

Mit Gottes Hilfe in die Schatten: Die Wege des Allmächtigen sind unergründlich, treiben sie doch ein unvorhersehbares Spiel selbst mit jenen, die sich seinem Dienst verschrieben haben. Der gläubige Katholik Mark bekommt dies mit aller Brutalität zu spüren, und als er alles in Frage stellen muss, was er vorher als feste Konstanten in seinem Leben angesehen hat, bleibt ihm nur noch die Flucht in die Parallelwelt der Shadowrunner.

von Henning Mützlitz

 

Inhalt

Wuppertal, 2063: Mark ist als angehender Ordensbruder in einem Kloster auf der ersten Ebene der Stadt tätig, dort, wo die Menschen arm, die Straßen dreckig und die Luft schlecht ist. Zwischen Gebeten, Gottesdiensten und Jugendarbeit versieht er seinen Dienst in der kleinen klösterlichen Gemeinschaft mit zufriedenem Gleichmut. Die Zweifel an der Institution der katholischen Kirche in einer erwachten Welt verdrängt er durch seinen unerschütterlichen Glauben an die Grundsätze, die Jesus den Gläubigen gepredigt hat. Die Schatten mit ihren Gefahren, Risiken und Chancen sind hier so weit weg, wie das spießige Wuppertal von den Megasprawls Nordamerikas.

Die Runnerin Quiz dagegen lebt ein völlig gegensätzliches Leben: Zusammen mit ihrem Team, bestehend aus der Troll-Samurai Ferrum, dem Elster-Schamanen Glitzer und dem Decker Mikro hat sie sich als verlässliche Truppe in den Schatten des Rhein-Ruhr-Sprawls etabliert und bescheidenen Wohlstand aufgebaut. Ein neuer Auftrag, der der von ihr verabscheuten katholischen Kirche und ihren Würdenträgern einen empfindlichen Stich versetzen soll, verspricht Geld und Befriedigung im Kampf gegen die Scheinmoral der Kirche.

Zwischen den beiden gegensätzlichen Protagonisten kommt es innerhalb von zwei Tagen zu gleich zwei Begegnungen, die ihrer beider Leben auf schicksalhafte und ungeahnte Weise miteinander verbinden sollen: Erst stirbt Quiz' verhasste Großmutter in Wuppertal, wo Mark und seine Brüder deren Bestattung durchführen sollen. Am nächsten Tag führen die Runner ihren Auftrag bei einem ökumenischen Kongress durch. Obwohl Mark Quiz trotz ihrer aufwendigen Tarnung erkennt, verläuft dennoch alles nach Plan. Als das beschauliche Leben im Kloster aber kurz darauf ein jähes Ende nimmt, sieht Mark nur noch einen Ausweg: Er muss sich an die toughe Runnerin wenden, will er in einem grausamen Spiel auf Leben und Tod bestehen.

Kirche, Moral und die Sechste Welt

Der bereits 2004 als seinerzeit 64. Roman in der „Shadowrun“-Romanreihe bei Fantasy Productions erschienene Roman von André Wiesler ist seit 2008 wieder in einer überarbeiteten Neuauflage bei Heyne erhältlich. Die harte Welt der Schatten im Deutschland des Jahres 2063 mit der völlig gegensätzlichen Einstellung katholischer Mönche zu kombinieren und miteinander in Bezug zu setzen, verdient als Idee für einen Roman schon einmal ein Lob. Bietet die ADL insbesondere mit ihren vielen – oftmals ins Extreme abdriftenden – religiösen Gruppierungen und vor allem dem Kirchenstaat Westphalen genug Ansatzpunkte für spannende Geschichten, gehört dennoch einiges an Geschick dazu, beides so miteinander zu kombinieren, dass es für den Leser glaubhaft ist. Grundlinien sind hier in den Hintergrundbänden zur ADL abgesteckt, aber der Teufel steckt bei der Umsetzung in einen Roman im Detail.

Fragen wie „Wie könnte klösterliches Leben im Jahr 2063 aussehen? Wie agiert eine katholische Kirche konkret innerhalb der erwachten Welt? Was kann Kirche in einer von sozialer Degeneration und überbordender Technisierung geprägten Gesellschaft überhaupt noch leisten? Wie weit hat sich die Institution Kirche den Gegebenheiten der Konzern-dominierten ADL untergeordnet, und inwieweit steht der Priester oder Mönch als Einzelner dahinter?“ sind sicherlich nur eine Auswahl, auf die André Wiesler bei der Konzeption und Umsetzung des Romans Antworten finden musste. Diese sind durchaus glaubwürdig entwickelt, geht der Autor doch vor allem in der Person des nur scheinbar gefestigten Gläubigen Mark immer wieder auf die inneren Zwiespälte ein, mit denen er zu kämpfen hat. Durch die zunehmende Aktualität dieser Fragen in unserer heutigen Gesellschaft erhalten auch diese Antworten einen konkreten Bezug zum Jetzt, der in Zeiten eines Papstes, der Kondome am liebsten verbieten würde, aber gleichzeitig Internet-Kanäle zur Indoktrinierung der Gläubigen nutzt, eher an Brisanz zu- als abgenommen hat.

Wiesler entwickelt in seinem Roman eine spannende Handlung um eben genau jene Problematik herum, und man ist bereits nach wenigen Dutzend Seiten gefangen von seiner durchaus als liebevoll zu bezeichnenden Darstellung der Ordensbrüder. Genau aus diesem Grund trifft es den Leser umso härter, wenn er die heile Welt radikal zerstört und seinen Hauptprotagonisten Mark brutal aus eben jener herausreißt. Ab der Mitte des Buchs nimmt die Handlung richtig Fahrt auf, und die Spannungskurve steigt enorm an, was der Autor bis zum Schluss durchhält. Überraschende Wendungen, Action und Dramatik, Zuneigung und Grausamkeit wechseln sich stetig ab. So muss es sein!

Schwächen und Nichtigkeiten

Wirkliche Schwächen gibt es wenige zu bemängeln, aber diese fallen doch hier und da ins Auge, sodass sie nicht gänzlich unerwähnt bleiben sollen. Während Mark als Hauptprotagonist im Lauf der Handlung viel an Charakter und Tiefe gewinnt, sind die Runner um Quiz recht eindimensional dargestellt: Die Trollschlägerin kann wenig mehr als prügeln und fluchen, der Decker ist ein körperlich versehrtes Superbrain und der Schamane als metrosexueller Gary Glitter sorgt für die komödiantischen Elemente. Einzig Quiz als Marks Gegenpart gewinnt aus ihrer Biographie heraus deutlich an Tiefe, die leider immer wieder von der manchmal etwas aufgesetzt wirkenden „Shadowrun-Straßen-Coolness“ vernachlässigt wird. Warum zudem ihre „kleinen Brüste“ ständig zum Thema gemacht werden, ist auch nicht so wirklich nachvollziehbar.

Der Autor hat darüber hinaus ein Faible für scheinbar möglichst genaue Angaben zu eher unwichtigen Dingen. Als persönlicher Running-Gag hat sich für mich beispielsweise die stetige Erklärung der Größen, Formen und Inhalte der Trinkbehältnisse der Protagonisten entwickelt. Ob die Cola nun aus einem 0,33- oder 0,5-Liter-Fläschchen getrunken wird, ist als Information eigentlich eher zu vernachlässigen ...

Zur Ausstattung


Das Titelbild hat bis auf die angedeutete Kirchenfassade als dezentem Bezug nichts mit der Handlung zu tun, entspricht aber der gängigen „Shadowrun“-Optik und grenzt sich deutlich von der recht laienhaften Anmutung des Covers der Erstauflage ab. Ein kurzes Glossar mit den wichtigsten Begriffen und Abkürzungen der Sechsten Welt sowie Übersetzungen für die lateinischen Redewendungen, die von den Mönchen hin und wieder verwendet werden, runden ein überaus positives Gesamtbild ab und versorgen auch den „Shadowrun“-unkundigen Leser mit allem Wesentlichen.

Fazit: „Im Namen des Herrn“ ist ein absolut empfehlenswerter „Shadowrun“-Roman, der von Setting und Handlung über die übliche „Run mit Komplikationen“-Schiene hinausgeht, und mit den Machenschaften der katholischen Kirche ein Thema behandelt, das gerade vor dem aktuellen Hintergrund immer wieder zum Nachdenken anregt. Daneben ist die große Stärke die enorme Spannung, die sich vor allem gegen Ende hin aufbaut und den Leser kaum noch loslässt.


Shadowrun – Im Namen des Herrn (Shadowrun-Roman Nr. 64)
Rollenspiel-Roman
André Wiesler
Heyne 2008
ISBN: 9783453523692
379 S., Taschenbuch, deutsch
Preis: EUR 7,95

bei amazon.de bestellen