Second Sight

Wer nur mit dem "World of Darkness"-Regelwerk spielt, ohne auf eines der drei großen Settings ("Vampire", "Werewolf", "Mage") zurückzugreifen, hatte bis jetzt keine Regeln zur Hand, seine menschlichen Charaktere mit übernatürlichen Kräften auszustatten. Dies holt "Second Sight" jetzt nach und führt sowohl psychische Kräfte als auch verschiedene Magieschulen und Rituale ein, die sich in der Mechanik von den Kräften übernatürlicher Wesen doch unterscheiden.

von Nicolas Hohmann

 

Vom Layout und der Gestaltung her ein typisches White-Wolf-Buch. Es kommt im Hardcover daher und umfasst 160 Seiten. Das Cover ist thematisch passend gewählt, sagt mir jedoch nicht zu – es ist zu violett und die Frau sieht aus, als habe sie ein Doppelkinn. Die Innenabbildungen sind jedoch hervorragend und ich würde mir bei manch einem "Mage"-Quellenbuch eine so hohe Qualität der Bilder wünschen. Das Papier ist leider nicht mehr das gewohnte Hochglanzpapier, schade.

Um zum Inhalt zu gelangen, kämpft man sich also an der  Kurzgeschichte "Boogeyman"  sowie den zwei Seiten Einführung vorbei, die sich die Autoren auch gut hätten schenken können. "Second Sight" ist in vier Kapitel und einen Anhang gegliedert. Bei dem Buch handelt es sich sowohl um Regel- als auch  um Quellenbuch. Es ist ein Regelbuch, weil es uns – logischerweise – viele neue Regeln bringt, allerdings entladen die Autoren hier nicht nur einen Wust an neuen Spielmechaniken auf ihre Spieler. Jedes Kapitel enthält auch Erklärungsversuche für die übernatürlichen Kräfte, Ideen wie man sie in die eigene Chronik einbauen kann sowie Ideen für Szenarien, die sich um eine Kraft herum aufbauen lassen.

In "Not Normal" werden zunächst mal allgemeine Worte über die übernatürlichen Kräfte und die Menschen, die mit ihnen gesegnet/verflucht wurden, verloren. Wie offen agieren diese Menschen in der Gesellschaft? Gibt es große Vereinigungen von Psionikern beispielsweise, so wie sich Vampire oder Magi organisieren? Des Weiteren wird das regeltechnische Konzept des "Lesser Template" eingeführt und geklärt, wie nun die Psi-Kräfte oder die nicht-atlantische Magie (zur Abgrenzung gegenüber der mächtigeren atlantischen Magie eines Magus) auf Werwölfe, Vampire oder Magi wirkt und mit ihren Kräften interagiert. Das allgemeine Konzept der Templates ist bekannt: Man erschafft einen normalen Menschen und je nachdem, was aus ihm werden soll im Rahmen der großen drei Settings, werden die Werte nochmal verändert und es kommen weitere Spielattribute hinzu (wie zum Beispiel ein Blutpool bei Vampiren). Ein "Lesser Template" funktioniert im Prinzip genauso. Der Unterschied ist: Es ist schwächer als ein Template und geht verloren, wenn man ein reguläres Template dazugewinnt. Konkret: Wird ein Voudoun-Magier zu einem Vampir gemacht, so verliert er alle seine Voudoun-Fähigkeiten und die darin investierten Punkte. Ein Zurück ist nicht mehr möglich.

Anschließend werden in "Psychic Phenomena" die Psi-Kräfte eingeführt. Das Kapitel beginnt dabei mit einem kursorischen Überblick über die Geschichte parapsychologischer Erforschung und man bekommt in einem Glossar allerlei pseudowissenschaftliche Termini, beispielsweise morphische Resonanz, samt Definition geliefert. Über 32 Seiten des Kapitels beschäftigen sich dann mit einer Beschreibung der Psi-Kräfte, die in vier große Domänen gegliedert wurden: ESP, Medium, Psychokinese und Telepathie. Abgehandelt werden sie als "Merits", die auch als solche mit den 7 Punkten, die bei Charaktererschaffung zur Verfügung stehen, gekauft werden müssen.  Einige Kräfte lassen sich graduieren beziehungsweise in einer schwächeren Variante billiger kaufen. Andere wiederum setzen gewisse Kräfte voraus. Obwohl es möglich ist, später mit Erfahrungspunkten Kräfte dazuzukaufen, finde ich 7 Punkte knapp bemessen, da damit ja auch die weltlichen Vorteile wie Ressourcen oder Kontakte erworben werden müssen. Nirgends habe ich gelesen, dass ein zusätzliches Punktkontingent dafür bereitsteht, aber das kann ja notfalls auch jeder Spielleiter für sich entscheiden.

"Low Magic" beschreibt sechs Schulen der Magie mit ihrem metaphyischen Überbau und dem Weltbild, das mit dieser Art der Magie einhergeht. Diese Magieschulen sind:

  • Apostle of the Dark One
  • Ceremonial Magician
  • Hedge Witch
  • Shaman
  • Taoist Alchemist
  • Voudoun

All diesen Schulen stehen unterschiedliche Rituale zur Verfügung, die am Ende des Kapitels auf 20 Seiten beschrieben werden und ebenfalls als Merits zu kaufen sind. Ein bestimmtes Hausritual ist allerdings für jeden Magier frei. Großer Nachteil der Rituale ist, dass sie mindestens 10 Minuten brauchen, um ausgeführt zu werden – dies mindert in Situationen, in denen Zeit ein kostbares Gut ist, im Kampf zum Beispiel, ihre Effektivität.

Kapitel 4 "Reality Bending Horrors" wendet sich an den Erzähler. Schritt für Schritt wird hier die Erschaffung einer Verschwörung von Kultisten, von ihrer düsteren Gottheit oder ihrem Glaubenssystem über die Kultanführer bis hin zu den einzelnen Mitgliedern, erläutert. Großer Wert wird dabei auf eine innere Konsistenz des Kultes in seiner äußeren Darbietung, den Motiven von Anführern und Mitgliedern sowie der außerweltlichen Macht, von der der Kult geführt und inspiriert wird, gelegt. Dazu kommen noch Kräfte und Rituale für Kultisten, denn sie sind sicherlich zu dunkel oder abartig, als dass Spielercharaktere einen Nutzen daraus ziehen könnten. An sich ist das Kapitel gut, die Regeln gefallen mir, doch einen Punkt muss ich ganz deutlich kritisieren: Wenn von alten Göttern, die im Weltall lauern bis ihre Zeit reif ist etc. die Rede ist, dann ist das eindeutig  aus Lovecrafts Cthulhu-Mythos und dazu gibt es bereits ein erfolgreiches Rollenspiel. Anstatt zu kopieren und zwar in dieser Deutlichkeit, hätten die Seiten auch für etwas anderes verwendet werden können, und seien es weitere Kräfte.

Der Anhang enthält ein Szenario, das sich um eine merkwürdige selbstreplizierende Kraft dreht. Dabei ist man diesmal vom klassischen Weg des Szenarienschreibens abgewichen und hat sich nur auf die Kernszenen, die relevant sind, beschränkt. Und auch diese sind nur so weit wie notwendig beschrieben. Der Erzähler weiß, wozu die Szene dient und was darin passieren kann. Die Bühne muss er sich schon selbst ausdenken und aufbauen. Ideen also, keine konkreten Handlungsanweisungen. Damit ist wohl ein freies Leiten näher an den Vorstellungen der Gruppe möglich. Die Idee hinter dem Szenario selbst finde ich nicht so berauschend.

Fazit: Insgesamt kann ich jedem Erzähler, der für seine "Welt der Dunkelheit"-Chronik noch übernatürliche Kräfte braucht, ohne auf Magus oder Vampir zurückgreifen zu wollen, das Buch ans Herz legen. Die Regeln sind solide, obwohl sie natürlich schon das Spielgefühl verändern. Es ist ein Unterschied, ob die FBI-Agenten nun einen Telepathen in ihrem Team haben oder nicht. Auch Neugierigen ist "Second Sight" zu empfehlen, ist es doch eine angenehme Lektüre und es bietet einem Einblicke, was mit dem Storytelling-System alles machbar ist – jenseits von "Vampire" & Co.


Second Sight
Quellenbuch
Alan Alexander, Will Hindmarch, Conrad Hubbard, Brand Robins, John Snead
White Wolf 2006
ISBN: 1588464873
160 S., Hardcover, englisch
Preis: $ 26,99

bei amazon.de bestellen