von Marcello Marceddu
Handfestes
Mit dem neusten Werk aus der „White Wolf“-Schmiede erhalten wir den Einblick in die Welt des „Scion“-Systems, das auf drei dicke Bände beschränkt sein soll: „Hero“, „Demigod“ und „God“. Im ersten Band, „Hero“, wird ein Kosmos eingeführt, der nur auf den ersten Blick dem unserem sehr ähnlich ist. Die Spieler verkörpern Halbgötter auf Erden, die irgendwann aus ihrem Alltag gerissen werden, um festzustellen, dass die Welt um sie herum nicht das zu sein scheint, was sie seit Langem vorgibt zu sein.
Sich ihrer Fähigkeiten nicht bewusst, entdecken die Scions eines Tages ihre Kräfte und erhalten den Auftrag, die Erde vor den Titanen und ihrem Gefolge zu beschützen. Diese wurden nämlich von den Vätern oder auch Müttern der Spieler vor vielen Tausenden von Jahren hier auf der Erde eingesperrt. Leider sind die Titanen nun aus ihrem Gefängnis geflohen und treiben ihr Unwesen auf der Erde beziehungsweise die Brut derselbigen.
Das ist im Groben die Haupthandlung von „Scion“, und es ist eine nette Idee, aber sicher nichts, was nicht schon in ähnlicher Form zu finden ist oder war.
Das Buch selbst ist sehr gut verarbeitet und gut aufgemacht. Die ca. 100 ersten Seiten des Buches kommen sogar farbig daher, bevor uns das bereits bekannte Schwarz-Weiß-Design aus der bekannten „World of Darkness“ begrüßt. Die Illustrationen bewegen sich auf gutem Niveau und transportieren die Atmosphäre, die das spezielle Setting ausmacht. Das Buch ist ein richtig dicker Schmöker mit über 330 Seiten und eignet sich zur Not auch bestens dazu, das Gefolge der Titanen selbst damit weichzuklopfen.
Die Lektüre beginnt mit einer sehr, sehr langen Kurzgeschichte, vermittelt aber gleich zu Beginn wichtige Informationen, um den Kontext der Welt besser begreifen zu können. Für meinen Teil hätten es aber durchaus weniger als 38 Seiten Einführungsgeschichte sein können. Immerhin kann der eine oder andere Spielleiter sich hier eine Vorstellung davon machen, wie ein Präludium in „Scion“ aussehen kann.
Göttersagen
Als Spieler wählt man aus sechs verschiedenen Pantheons (ägyptisch, nordisch, griechisch, japanisch, aztekisch und Voodoo) seine Gottheit aus. Darunter finden sich alte griechische Bekannte wie Ares, der Kriegsgott, oder auch die nordischen Gottheiten, wie der gute alte Thor. Ein bisschen fehl am Platz wirken für mich allerdings die Voodoo-Götter, die meines Erachtens wohl die Fans der Untoten ansprechen sollen. Gut, ich bin kein Spezialist auf diesem Gebiet und lasse mich auch gerne verbessern, aber bei einer Gottheit „Baron Samedi“ muss ich eher an die „World of Darkness“ denken, als an bekannte Gottheiten.
Die Wahl der Gottheit hat dann später natürlich auch Einfluss auf die übermenschlichen Fähigkeiten des Alter Egos des Spielers und die Art der Göttlichen Artefakte, die der Spieler erhält (Gaben der Götter).
Die Charaktererschaffung ist für Menschen, die schon mal irgendein „White Wolf“-System gespielt haben, keine große Überraschung. Das ganze System kennt man schon aus „Vampire“, „Werwolf“ oder auch „Exalted“ – es wirkt einmal zu oft aufgewärmt. Andersherum kann man natürlich auch sagen: Warum ein funktionierendes System ändern? Frei nach dem Motto: „Never Change a Winning Team“.
So baut man sich seinen Charakter in einem Kaufsystem aus den Grundattributen Stärke, Geschicklichkeit, Konstitution, Willenskraft, Manipulation, Intelligenz, Ausstrahlung, Wahrnehmung und Sinne. Im Verlauf der Charaktererschaffung wählt der Spieler auch Spezialfähigkeiten und übernatürlichen Kräfte, die es ermöglichen, beispielsweise extrem weit zu springen oder auch in Windeseile schwerste Verwunden abzuschütteln. Hier gibt es allerlei Fähigkeiten, die sich anhand der gewählten Gottheit eher offensiv oder defensiv einsetzten lassen. Im Grunde gibt es auch hier viele Parallelen zu den Disziplinen aus „Vampire“.
Auch das Kampfsystem ist nicht wirklich neu und scheint fast 1-zu-1 aus der „Exalted 2. Ed.“ übernommen worden. Auch hier wird beispielsweise mit so genannten „Ticks“ gearbeitet, wobei ein Tick je einer Sekunde entspricht. Je nach Manöver, die er ausführen möchte, ordnet sich der Charakter dann in eine zeitliche Abfolge ein und greift in den Kampf ein, sobald die Reihe an ihn kommt. Diese Idee ist mal eine Abwechslung zur bekannten Rundenabfolge anderer Spiele, kann aber zu Problemen bei der Übersicht führen, sobald mehr als eine Handvoll Personen am Kampf beteiligt ist.
Die Modifikatoren bei Würfelwürfen im Spielverlauf sowie im Kampf wirken sich wie bei der neuen „World of Darkness“ direkt auf den Würfelpool aus, sodass ein schneller Spielablauf gewährleistet ist. Der Haken an der Sache ist nur der, dass selbst Start-Charaktere über eine Latte an Sonderfähigkeiten beziehungsweise Boni verfügen, sodass am Ende trotzdem noch eine Menge Würfel fallen. Das bremst den Spielfluss doch wieder etwas aus.
Im letzten Drittel des Buches ist obligatorisch der Spieleiterteil zu finden. Dieser erteilt einem ein paar Ratschläge zum allgemein Leiten einer Runde und auch zu einigen Besonderheiten des „Scion“-Universums. Für Neulinge ist das sicherlich ganz hilfreich, für Spieleiter-Urgesteine indes nichts Weltbewegendes.
Positiv zu vermerken ist, dass ein gut ausgearbeitetes Abenteuer über 50 Seiten bereits im Buch enthalten ist. So kann man als Spieleiter direkt loslegen und wird etwas an die Hand genommen. So etwas ist ja heute leider nicht mehr immer der Fall.
Damit man als Spieler schließlich stets genug Gegner zum Verkloppen hat, ist zu guter Letzt auch noch ein guter Querschnitt an Monstern, Menschen und anderen Fabelwesen mit Werten im Buch enthalten.
Fazit: Mit dem 1. Band der dreiteiligen „Scion“-Reihe hat „White Wolf“ ein grundsolides Spiel mit einer netten Hintergrundwelt geschaffen. Wer etwas völlig Neues oder gar Bahnbrechendes erwartet hat, wird sicherlich etwas enttäuscht sein. Aber gerade für neue Spieler, kann „Scion“ ein guter und spannender Einstieg ins Rollenspiel sein, denn es verspricht gradlinige Action und nette Interaktion zwischen eigenwilligen Helden, die in göttlichem Auftrag unterwegs sind. Ich bin mir sicher, das „Scion“ einige Liebhaber finden wird, und da noch zwei weitere Bände folgen, bleibt auch noch ein bisschen Luft nach oben.
Scion – Hero
Grundregelwerk
Justin Achilli, Alan Alexander, Bill Bridges, John Chambers
White Wolf 2007
ISBN: 978-1-58846468-2
335 S., Hardcover, englisch
Preis: $ 34.99
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