Sandman 7: Kurze Leben

Mit „Kurze Leben“ kehren Neil Gaiman und sein Team aus wechselnden Zeichnern, die den „Sandman“-Graphic Novels einen vielseitigen und dennoch formal stimmigen Stil verleihen, nach der Anthologie „Fabeln & Reflexionen“ zum Familiendrama um die ewigen Mächte zurück. Dream und seine jüngere Schwester Delirium begeben sich auf die Suche nach ihrem untergetauchten Bruder Destruction, der seinen Job als Personifizierung ewiger Mächte an den Nagel gehängt hat. Die Reise beginnt als absurdes Road-Movie im Stil von „American Gods“ und entwickelt sich mit jeder weiteren Station zur klassischen Tragödie.

von Andreas Rauscher

 

Im Rückblick erscheint Neil Gaimans Anfang der 1990er Jahre veröffentlichtes Fantasy-Epos „Sandman“ wie eine Anleitung zur effektvollen Kombination einer epischen, über mehrere Graphic Novels verteilten Handlung mit einer umfassenden fiktionalen Welt, deren detailverliebte Mythologie in Kurzgeschichten beleuchtet wird. Während die Haupthandlung ein Familiendrama von kosmischen Ausmaßen entwirft, verknüpfen die begleitenden Anthologien in Episoden und Fragmenten das Geschehen mit den unterschiedlichsten Persönlichkeiten der Weltgeschichte, von literarischen Größen wie Mark Twain und William Shakespeare, bis hin zu historischen Entdeckern und Herrschern wie Marco Polo und dem römischen Kaiser Augustus. Auf Grund dieser Vermischung von Fakten und Fiktionen, sowie der zahlreichen Zitate und Querverweise, die bis heute Material für eine ganze Regelwand voller akademischer Comic- und Cultural-Studies-Reader bieten, erscheint „Sandman“ als exemplarisches Werk der Postmoderne.

Zu dieser in den 1980er und 1990er Jahren gehypeten, kulturellen Strömung passt auch die Auflösung der großen Erzählungen, die scheinbar in den patchworkhaften Anthologien beispielhaft realisiert wird. Doch wie der siebte Band „Kurze Leben“ wieder einmal verdeutlicht, handelt es sich um ein geschicktes dramaturgisches Ablenkungsmanöver.

Denn ganz im Unterschied zu rein selbstironischen und unverbindlichen Zitatkonglomeraten, wie sie die Postmoderne immer wieder gerne hervorbrachte, geht es in „Sandman“, ähnlich wie in Gaimans Roman „American Gods“, um den Umgang mit den Fragmenten der epischen Erzählungen. Sie können zwar nicht mehr das Leben, das Universum und den ganzen Rest erklären, aber so wie die Familie der „Ewigen“ Destiny, Death, Dream, Desire, Despair, Destruction und Delirium, sämtliche in der Moderne zur Machtlosigkeit verdammten Gottheiten der Mythologie überlebt haben, überdauern auch die klassischen Erzählungen in Gaimans realitätsbezogenen Fantasy-Welten ihre ironische Relativierung und entfalten eine neue unvorhergesehene Wirkung.

Szenarien, die auf den ersten Blick wie ein ironisches Zitat erscheinen, entwickeln plötzlich eine unerwartete Eigendynamik und nehmen wieder Bedeutung an. Auf die Suche nach dem zu Beginn der Neuzeit untergetauchten Destruction begibt sich der Herrscher der Träume aus einer Laune heraus, ohne zu ahnen, dass er damit die nächste Peripetie im kosmischen Familiendrama auslöst. Hochgradig stilisiert lässt er in seiner Traumwelt, als er von Liebeskummer geplagt wird und in Selbstmitleid versinkt, Regenschauer und Gewitter aufziehen, die sich mit jedem klassischen Hollywood-Melodram messen können. Ein unerwarteter Besuch seiner Schwester Delirium befreit ihn aus seiner kultivierten Lethargie. Nachdem bereits die meisten anderen Verwandten ihr Anliegen, sich auf die Suche nach dem Vermissten zu begeben, abgelehnt hatten, lässt sich Dream auf das Abenteuer ein.

Die Nachforschungen beginnen als skurriles Road-Movie, bei dem im Stil von „American Gods“ archaische, in Frührente gegangene Mächte und postmodernes Alltagsleben aufeinander treffen. Nachdem die meisten nach dem geheimen Aufenthaltsort von Destruction befragten Gottheiten jedoch kurz darauf das Zeitliche segnen, deutet sich an, dass die Konsequenzen der Suche um einiges schwerwiegender ausfallen könnten, als es Dream anfangs vermutet hatte. Ursprünglich ging er davon aus, dass sie ohnehin keinen Erfolg haben würden. Mit Hilfe seines Sohnes Orpheus, der für die Information einen hohen Tribut fordert, machen sie auf einer griechischen Insel schließlich doch noch Destruction ausfindig.

Das folgende gemeinsame Abendessen stellt auf ausgesprochen amüsante und intelligente Weise die Schicksalsgläubigkeit der Fantasy auf den Kopf und verdeutlicht erneut, weshalb Gaiman zu den talentiertesten Autoren in diesem Genre zählt. Entgegen seiner ursprünglichen Aufgaben interessiert sich Destruction nicht mehr für die Macht der Zerstörung, sondern zeigt sich ganz fasziniert davon, wie die Menschheit Veränderungen für kreative Neuanfänge nutzt.

Zugleich zeichnet sich langsam, aber sicher die Tragik des Herrschers der Träume ab. Im Unterschied zu seinem flexiblen Bruder Destruction bringt er es nicht fertig, Veränderungen zu akzeptieren und in dieser Hinsicht knüpft er weniger an die stilisierte Naivität der Postmoderne an, sondern steht in der Tradition der desorientierten Antihelden der Hochmoderne.

Fazit: „Kurze Leben“ beginnt als skurriles Fantasy-Road-Movie um untergetauchte Schicksalsmächte und zurückgezogene Gottheiten. Im Verlauf der Handlung entwickelt sich das postmoderne Patchwork jedoch zunehmend zu einem klassischen Drama, das den Auftakt zur in den letzten Bänden eintretenden Katastrophe bildet. Auf amüsante und pointierte Weise kommentiert Neil Gaiman in der Figur des untergetauchten Destruction die Konventionen des Fantasy-Genres und verdeutlicht erneut, dass er in diesem Bereich zu den innovativsten Autoren zählt.


Sandman 7: Kurze Leben
Comic
Neil Gaiman, Jill Thompson, Vince Locke u. a.
Panini / Vertigo 2009
ISBN: 978-3-86607-782-9
260 S., Softcover, deutsch
Preis: EUR 24,95

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