von Andreas Rauscher
Nachdem Neil Gaiman in „Traumland“ die Geschäfte zwischen Shakespeare und Dream sowie die wahre Entstehungsgeschichte des „Midsummer Night Dream“ aufgedeckt hatte, folgen in „Fabeln und Reflexionen“ ungewöhnliche neue Perspektiven auf die Orpheus-Sage, den selbst ernannten Kaiser von Amerika und die Abenteuer des jungen Entdeckers Marco Polo.
Die historische Figur des Abraham Joshua Norton diente als Inspiration für die den Band nach einem kurzen Prolog eröffnende Geschichte „Drei September und ein Januar“. Dessen skurrile Idee, sich selbst Mitte des 19. Jahrhunderts zum amerikanischen Kaiser zu erklären, obwohl er Zeit seines Lebens lediglich in einer kleinen Pension in San Francisco residierte, erweist sich als geschickter Schachzug Dreams in einem Wettkampf gegen seine Geschwister Desire und Despair. Die Geschichte verhandelt die klassische Frage danach, was ein erfülltes Leben ausmacht. Statt sich auf bedeutungsschwangere Diskurse einzulassen, geht Gaiman diesem philosophischen Thema auf unterhaltsame Weise und mit einem ausgeprägten Gespür für Absurditäten nach. Nortons von Dream gefördertes, subversives Chaos widersetzt sich erfolgreich den Abgründen der Verzweiflung – oder wie die mit Desire und Despair assoziierte Delirium resigniert erklärt: „Er ist nicht mein... sein Wahn hält ihn gesund.“ Passend zur kaiserlichen Groteske absolviert der Schriftsteller Mark Twain, der in unmittelbarer Nachbarschaft Nortons lebte, einen Gastauftritt.
Die (Alb-)Träume der Herrscher und Mächtigen bilden in „Fabeln und Reflexionen“ das thematische Bindeglied zwischen mehreren der Erzählungen. In „Thermidor“ gerät Johanna Constantine, eine Ahnin des zukünftigen Hellblazer-Protagonisten, in die Wirren des nachrevolutionären Frankreichs, in dem aus Machthunger zunehmend die Ideale der Revolution verraten werden, und in „August“ begibt sich der römische Kaiser Augustus als Bettler verkleidet unter die Bevölkerung Roms, nachdem ihm Dream dazu geraten hat. Der formale Einfallsreichtum Gaimans und der mit ihm arbeitenden Zeichner zeigt sich auf eindrucksvolle Weise in der Kurzgeschichte „Ramadan“, die passend zur Begegnung des Herrschers der Träume mit einem Kalifen sich ästhetisch und in der Schriftgestaltung an arabischen Märchen orientiert. Ein ähnlicher Ansatz findet sich auch in „Die Jagd“, die Motive der osteuropäischen Folklore mit dem „Sandman“-Kosmos verbindet. In diesen Märchen-Remixes zeigt sich bereits Gaimans Vorliebe für kreative Kombinationen aus den Mythologien unterschiedlichster Kulturkreise, die ihren Höhepunkt einige Jahre später in dem Roman „American Gods“ fand.
Während die meisten Geschichten als eigenständige, reizvolle Ausgestaltungen des „Sandman“-Universums funktionieren, nimmt die längste Erzählung „Orpheus“ einen Sonderstatus ein. In Gaimans Variante der bekannten antiken Sage des griechischen Sängers, der in die Unterwelt hinabstieg, um seine verstorbene Geliebte Euridyke zurück in die Welt der Lebenden zu holen, stellt sich heraus, dass er der Sohn Dreams und der Muse Calliope war. Zu Orpheus’ Hochzeit versammeln sich sämtliche Familienmitglieder der Ewigen, inklusive Death, die ihm bedauernd erklärt, dass sie im Lauf des Tages auf seiner Feier noch zu tun hätte. Die Reimagination der Orpheus-Sage verdeutlicht noch einmal die wesentlichen Stärken Gaimans. Er überträgt die Vorbilder aus der Kulturgeschichte nicht einfach nur in seine selbst geschaffene fiktionale Welt, sondern integriert sie auf raffinierte Weise in die Dramaturgie seiner Erzählung. Das scheinbar ironisch aufbereitete Drama entwickelt sich zur Grundlage für ein Familiendrama unter den Ewigen und bereitet den nächsten zentralen Wendepunkt der Handlung vor. Doch wie die meisten Werke Gaimans kann sie auch als eigenständige Erzählung voller Querverweise und origineller Wendungen gelesen werden.
Fazit: In „Fabeln und Reflexionen“ zeigt sich erneut Neil Gaimans besonderes Talent, eine komplette eigene Mythologie für seine Charaktere zu entwerfen, die zugleich auf zahlreiche historische Phänomene, Folklore aus verschiedenen Kulturkreisen und literarische Werke anspielt. Einerseits wird er durch das bewusste Spiel mit Querverweisen und Zitaten seinem Ruf als eines der prägendsten Talente der postmodernen Fantasy gerecht, gleichzeitig versteht er es jedoch, seine postmodernen Variationen geschickt in die Entwicklung der Ewigen zu integrieren. In dieser Hinsicht bietet „Fabeln und Reflexionen“ eine reizvolle eigenständige Ergänzung zur Haupthandlung und liefert zugleich wichtige Hintergrundinformationen zu den Ereignissen der folgenden Bände.
Sandman 6: Fabeln und Reflexionen
Comic
Neil Gaiman, Bryan Talbot, Stan Woch, P. Craig Russell u. a.
Panini / Vertigo 2008
ISBN: 978-3-86607-628-0
268 S., Softcover, deutsch
Preis: EUR 24,95
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