von Andreas Rauscher
Science-Fiction-Schriftsteller Samuel R. Delaney weist in seinem Vorwort zu „Über die See zum Himmel“ auf das für den Band zentrale Wechselspiel zwischen zwei Ebenen hin, die nur auf den ersten Blick konträr zueinander erscheinen. Der erste Handlungsstrang könnte die Blaupause für einen typischen Disney-Blockbuster abgeben: Ein von sprechenden Tieren und anderen niedlichen Wesen bewohntes Märchenland wird von einem mysteriösen Gegenspieler, dem Kuckuck, bedroht. Der zweite Plot ist ganz im Stil von Gaimans Roman „American Gods“ nicht in einer zeitlosen Parallelwelt, sondern im New York der Gegenwart angesiedelt. Wie gewohnt verzichtet er auf eine allzu forcierte Gegenüberstellung von tristem Alltag und eskapistischer Phantasie, sondern rückt auf einfallsreiche Weise die Verbindungen zwischen den beiden Ebenen in den Mittelpunkt der Erzählung, inklusive der entsprechenden psychologischen und ideologischen Subtexte. Sandman alias Dream selbst beschränkt sich dieses Mal auf einen kurzen Auftritt. Stattdessen widmet sich „Über die See zum Himmel“ ausgiebig einigen Nebenfiguren, die in mehreren Bänden der „Sandman“-Serie und den Spin-Offs um seine Schwester „Death“ auftreten.
In einem etwas heruntergekommenen Mietshaus hat sich in der Stadt, die angeblich niemals schläft und dafür umso intensiver träumt, eine illustre Gruppe von Außenseitern zusammengefunden. Neben dem Transsexuellen Wanda und dem Lesben-Paar Hazel und Foxglove findet sich unter ihnen auch die bereits aus „Das Traumhaus“ bekannte, attraktive, aber unglückliche Barbara. Nach den traumatischen Erlebnissen in Florida im zweiten Band des „Sandman“-Zyklus hat sie ihre ungebremste Naivität und ihren zombiehaften Lebensabschnittspartner hinter sich gelassen, um sich in New York ein neues Leben aufzubauen. Die Vergangenheit ihres in Träumen detailliert ausgestalteten Phantasielebens als Disney-kompatible Prinzessin holt sie überraschend ein, als die Probleme ihres imaginären Märchenreichs plötzlich in die Realität vordringen. Gemeinsam mit ihren Nachbarinnen begibt sie sich auf eine bizarre Odyssee, die sowohl in die Abgründe der eigenen Psyche führt, als auch einen fällig gewordenen Vertrag mit dem Herrscher der Träume einlöst.
Die hervorstechende Qualität von Gaimans, zeichnerisch von seinen Mitstreitern gewohnt gekonnt umgesetzter Erzählung besteht nicht nur darin, dass sie sich nahtlos in ein vielschichtiges Patchwork aus eigenständigen „Sandman“-Geschichten einfügt, die in typisch postmoderner Form ständig aufeinander Bezug nehmen. Die besondere Finesse besteht darin, dass seine Romane und Comics durchgehend als doppelcodierte, Genregrenzen bewusst überschreitende und zugleich effektvoll erfüllende Literatur funktionieren. Die phantastische Ebene lässt sich nicht von den real existierenden gesellschaftlichen Zusammenhängen trennen, und dennoch kann der Fantasy-Kontext als utopischer Gegenentwurf verändernd auf den Alltag einwirken, ohne sich gleich auf Kalenderblattweisheiten und naive Erlöserträume einlassen zu müssen.
Neben dem unfreiwilligen Zusammentreffen der Protagonisten in der Fantasy-Parallelwelt dienen verschiedene Gender-Issues in „Über die See zum Himmel“ als übergreifendes Motiv. Das thematische Spektrum reicht von der Frage nach der gesellschaftlichen Konstruktion der Identität im Fall des Transsexuellen Wanda, auf die der englische Originaltitel „A Game of You“ anspielt, über die verborgenen Auslöser für die Fluchtträume Barbaras bis hin zu den Sitcom-tauglichen Streitereien zwischen Hazel und Foxglove, die wie die lesbische Version eines verkrachten alten Ehepaares wirken.
Mit dem Auftritt einer (post-)modernen Hexe, vertrackten Dimensionsreisen und dem Aufkommen eines bedrohlichen Sturms halten Elemente des Phantastischen Einzug in die scheinbar vertraute Wirklichkeit. Umgekehrt macht sich in der Märchenwelt zunehmend eine diskursive Ebene breit, die überraschende Erkenntnisse über deren Urheberin Barbara, ihre verdrängten Träume und Wünsche, zu Tage fördert. Wie beiläufig werden im letzten Drittel bereits Handlungsstränge lanciert, die in der exzellenten Graphic Novel „Death – The High Cost of Living“ und im Finale der „Sandman“-Saga ihre Fortsetzung finden, auch wenn die Geschichte selbst an ein schlüssiges Ende gelangt.
Fazit: Wie bereits die ersten vier Bände liefert auch „Über die See zum Himmel“ ein unterhaltsames Beispiel für gelungene, reflexiv gebrochene Fantasy-Literatur. Auf zugleich spielerische und ambitionierte Weise kommentiert Neil Gaiman in seiner Comic-Saga die ideologischen Konventionen des eigenen Genres. Selbst politisch engagierte Anspielungen auf postfeministische Diskurse der 1990er Jahre integrieren sich schlüssig in die Dramaturgie der Geschichte, ohne dass diese Bezüge allzu bemüht oder gefällig erscheinen würden. Neben der Fokussierung auf gesellschaftliche Außenseiter bleiben insbesondere die amüsanten Seitenhiebe auf den kalkulierten Kitsch kulturindustriell gefertigter High-Fantasy positiv in Erinnerung.
Sandman 5: Über die See zum Himmel
Comic
Neil Gaiman, Shawn McManus, Colleen Doran, u. a.
Panini / Vertigo 2008
ISBN: 978-3-86607-600-6
184 S., Softcover, deutsch
Preis: EUR 19,95
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