Otherland 4: Meer des silbernen Lichts

Apocalypse Now Digital! So lässt sich der vierte Teil der „Otherland“-Tetralogie von Tad Williams, der jetzt als Abschluss des Mammut-Hörspielprojekts des HR und des hörverlags auf sechs CDs vorliegt, schlagwortartig beschreiben. Spektakulär stürzt der virtuelle Weltenraum in sich zusammen und für die Protagonisten kommt es zur finalen Konfrontation.

von Bernd Perplies

Das Ganze beginnt mit dem Ende – dem Ende der Gralsbruderschaft. In den letzten Augenblicken des dritten Teils waren Renie, !Xabbu, Orlando, Fredericks und Co auf einem schwarzen Berg, auf dessen Gipfel eine Repräsentation des Anderen gefesselt lag, mitten in die Unsterblichkeitszeremonie der reichen alten Männer geplatzt, die für das gesamte Otherland-Netzwerk verantwortlich zeichnen. Doch der Schritt von realer Materie zu digitalem Geist bleibt den Schöpfern der mannigfaltigen Weltensimulationen verwehrt, denn wie sie entsetzt feststellen müssen, gehorcht ihnen ihr eigenes Programm schon lange nicht mehr. Dread, der psychopathische Gehilfe Felix Jongleurs, des reichsten (und ältesten) Mannes der Welt, hat das Netzwerk angegriffen und teils unter seine Kontrolle gebracht, teils destabilisiert.

Die Unsterblichkeitszeremonie endet in einem furchtbaren Fiasko, das Leben fordert und unsere Heldengruppe einmal mehr auseinandersprengt. Fredericks und !Xabbu etwa finden sich mit Felix Jongleur plötzlich alleine auf dem Gipfel wieder, Renie irrt durch einen abgeschotteten Bereichs des Netzes, der von dem Anderen als Visualisierung seiner Fantasien und Albträume geschaffen wurde, und die Übrigen hetzen von Simulation zu Simulation – eine grausamer entstellt als die andere, seit das Monster Dread hier mit perverser Lust die Knute schwingt.

In der Realität sieht die Lage auch nicht unbedingt rosiger aus, obschon die Protagonisten hier wenigsten aktiv dem Feind entgegentreten und nicht nur machtlos auf ihn reagieren. Renies Vater und Konsorten erwehren sich mit Herrn Sellars Hilfe standhaft der unbekannten Schergen der Gralsbruderschaft, die in den Bunker einzudringen versuchen, in dem Long Joseph über seine Tochter und den Buschmann in ihren VR-Tanks wacht. Catur Ramsey, Olga Pirofsky, Beezle und Herr Sellars bilden derweil die „fantastischen Vier“, die versuchen, von außen an das Otherland-Netzwerk heranzukommen, indem sie das himmelwärts aufragende Hauptquartier Felix Jongleurs infiltrieren. Und Detective Calliope Skouros hängt sich an die Spur von Dread, unwissend, mit welchem Gegner sie sich damit anlegt.

Am Ende trifft jeder seine Nemesis und in einer mehrfachen, gewaltigen und gewalttätigen Entladung löst sich die Geschichte auf und findet zu einem – nach all dem Leid und der apokalyptischen Stimmung der vergangenen fünf Stunden – fast unerwartet umfassenden Happy End. Manchem mag das zu versöhnlich sein, ich persönlich denke, die Helden haben sich nach den vielen Stapazen ein bisschen Gutes verdient.

„Meer des silbernen Lichts“ ist von allen vier Teilen der düsterste und extremste. Die teils komische Tonfall der Geschichte ist völlig dahin, Spannung und Horror stehen im Vordergrund. Dazu gehören explizite Textstellen ebenso wie eine schaurige Tonkulisse. Streckenweise will man gar nicht hören, was geschieht – Dread macht hier seinem Namen alle Ehre. Und auch das sadistische Duo Finney und Mudd, die ewigen Häscher von Paul Jonas und Helfershelfer von Felix Jongleur (der Mann scheint nur Abnormitäten auf der Lohnliste zu haben), gibt sich reichlich Mühe, die Protagonisten – und Hörer – das Grausen zu lehren.

Schön ist, dass es endlich Antworten gibt – und zwar auf praktisch alle Fragen. Auf regelrecht bewunderswerte Art und Weise finden auch einst völlig voneinander unabhängig wirkende Erzählstränge zusammen, verweben sich und ziehen gemeinsam auf das Finale hin. Es gibt sogar Antworten, die man überhaupt nicht erwartet hätte. Noch im Endspurt gelingt es Williams, ein paar wahrlich haarsträubende Wendungen in den Plot einzubauen (manche fast zu absurd, um wahr zu sein). Nur zwei Fragen werden nicht wirklich befriedigend beantwortet: Welche Funktion genau erfüllten nun eigentlich die Kinder innerhalb des Otherland-Netzwerks? Und wie kamen die Protagonisten letztlich wieder raus (bzw. warum sind sie stattdessen nicht alle draufgegangen)? Dass es sich dabei gerade um die eigentlich zentralen Fragen der ganzen Tetralogie handelt, ist wohl die Ironie des Ganzen.

Zum Technischen soll diesmal nicht viel gesagt werden. Die Qualität der bisherigen Hörspielreihe erfährt keinen Abbruch. Dass man mitunter noch gebannter der Handlung lauscht als bisher, spricht möglicherweise sogar noch für die Umsetzung des vierten Teils (vielleicht liegt es aber auch schlicht an der angezogenen Spannungsschraube). Positiv hervorheben möchte ich diesmal die Sprecher der Bösewichte: Werner Wölbern, Wolf-Dietrich Sprenger und Udo Schenk hauchen ihren Figuren Dread, Finney und Mudd – zum Teil elektronisch verzerrt – Furcht einflößendes Leben ein. Den abschließenden Pokal als gelungenste Stimme des coolsten Charakters erhält von mir indes Dietmar Mues, der Beezle, den treuen Robo-Agenten von Orlando Gardiner, mit japsender, feixender Eindringlichkeit dem Hörer ans Herz wachsen lässt.

Fazit: „Meer des silbernen Lichts“ ist der spannende, wenn auch vielleicht etwas zu exzessive Abschluss der großartigen, 24-stündigen Hörspielreihe zu Tad Williams „Otherland“-Tetralogie. Noch einmal werden dramaturgisch und akustisch alle Register gezogen und man sollte besser erst gar nicht versuchen, die CD-Box über mehrere Tage verteilt hören zu wollen. Das Ende ist überwiegend versöhnlich und so schließt man, aller schrecklichen Ereignisse, die einem in den letzten sechs Stunden noch präsentiert werden, zum Trotz mit einem guten Gefühl das Hörerlebnis ab.


Otherland 4: Meer des silbernen Lichts
Hörspiel nach dem Roman von Tad Williams
Walter Adler
Hörverlag 2005
ISBN: 3-89940-117-4
6 CDs, 330 min., deutsch
Preis: EUR 29,95

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