Otherland 2: Fluss aus blauem Feuer

Der zweite Teil des vierteiligen und aus insgesamt 24 CDs bestehenden „Otherland“-Hörspiel-Zyklus, der nach der Roman-Tetralogie von Tad Williams von Walter Adler für den Hessischen Rundfunk inszeniert wurde und nun beim Hörverlag erschienen ist, schließt auf all seinen Erzählebenen nahtlos an die Ereignisse rund um die „Stadt der goldenen Schatten“ in Teil 1 an. Hier jedoch steht die Odyssee der bunt gemischten Heldengruppe durch das virtuelle Otherland-Netzwerk ganz im Zentrum der Geschichte.

von Bernd Perplies

Auf verschiedenen Wegen und unter Bewältigung unterschiedlicher Hindernisse haben sie alle den Weg in die goldene Stadt gefunden: die afrikanische VI-Dozentin Renie Sulaweyo und ihr Buschmann-Schüler !Xabbu, der todkranke Junge Orlando Gardiner und sein Freund Sam Fredericks, der eigentlich Salome heißt und ein Mädchen ist, die blinde Netzrechercheurin Martine Desroubins, der geckenhafte Sweet William, die greise Quan Li, der großmäulige Teenager-Androide T4b und die abweisende deutsche Ärztin Florimel. Dort sind sie zu Gast bei Atasco, einem schwerreichen Südamerikaner, der einen Teil des Otherland-Netzwerks besitzt, ohne wirklich zum inneren Zirkel, der Gralsbruderschaft, zu gehören. Und hier treffen alle auch auf Herrn Sellars, den mysteriösen Alten, der sie ins Netz gelockt hat, um das Geheimnis der vielen erkrankten und im Koma liegenden Kinder zu lüften, das irgendwie mit Otherland verknüpft ist. Gemeinsam stellen sie fest, dass sie alle Gefangene des Netzes sind und erst wieder offline gehen können, wenn sie zum Kern des Systems (und des Problems) vorgedrungen sind.

Doch dann wird Atasco vor ihrer aller Augen im Real-Life ermordet und die Gruppe muss aus der goldenen Stadt fliehen. Durch einen blauen Schimmer im Wasser wechseln sie die Simulation und landen, mikroskopisch verkleinert, in der Insektenwelt des exzentrischen Asiaten Kunohara. Hier werden sie getrennt und hier beginnt die wilde Odyssee der Reisenden durch die zahllosen Simulationen des Netzwerks. Während Renie und !Xabbu von der Insektenwelt in ein vom Oz-Mythos pervertiertes Kansas geschleudert werden, schippern Orlando und Fredericks mit einem Comic-Indianer ein Rinnsaal in einer gigantischen Küche voller lebendig gewordener Lebensmittel entlang, die anderen irren weiter durch die Insektenwelt – wobei sie allerdings im Verlauf der Handlung des zweiten Teils des Hörspiels kaum eine Rolle spielen. Einzig Martine, die zwischendurch eine Art virtuelles Audio-Tagebuch führt, darf ein wenig über sich erzählen.

Doch natürlich ist es mit diesen drei Handlungssträngen nicht getan – wer Williams kennt, wird das wissen (und das Hörspiel hält sich hier strikt an seine Buchvorlage). Stattdessen werden uns literarisch wunderschön ausgeformte Schnipsel weiterer Geschichten zugeworfen, etwa die weitere Flucht des Irrfahrers Paul Jonas, der nicht weiß, wie er ins Netz gekommen und wer er in Wirklichkeit ist, durch ein zerstörtes London frei nach H.G. Wells oder ein karnevaleskes Venedig. Auch die kleine Christabel, die auf einem Militärstützpunkt irgendwo in Amerika den echten Sellars, einen alten Mann, der dort unter Hausarrest vor sich hinvegetierte, bevor er floh und sich in einem Bunkertunnel versteckte, kennt, darf sich mit einem wilden Jungen namens Cho-Cho und der Geheimnistuerei vor ihren Eltern plagen.

Renies Vater, Joseph Sulaweyo, flieht derweil aus dem Bunker, in dem er eigentlich über seine ans Netz angeschlossene Tochter wachen sollte und gerät in die Hände von Unbekannten. Der Detektiv Decatur Ramsey, der für die Eltern von Sam nach der Ursache der seltsamen Krankheit forscht, unter der deren Tochter leidet, freundet sich indes mit Orlandos Mini-Roboter Beezle-Bug an. Und die Netzspezialistin Dulcinea Anwin infiltriert im Auftrag von Dread, dem charismatisch-psychopatischen Handlanger von Felix Jongleur, dem reichsten Mann der Welt und Kopf der Gralsbruderschaft, die Reisegruppe rund um Renie, Orlando und Co.

Neu sind die zwei Handlungsstränge um die Netzunterhalterin Olga Pirofsky, die unter furchtbaren Kopfschmerzen leidet und glaubt, dass das Netz damit zu tun hat, sowie die Detektive Calliope Skourops und Stanley Chan, die aus Langeweile einer alten Mordserie nachgehen.

Wie man sieht, ist auch der zweite Teil der Tetralogie von der Handlung her unglaublich komplex aufgebaut – elf verschiedene Erzähler legen eindrucksvoll Zeugnis davon ab – und daher praktisch unverständlich für Hörer, die irgendwo in der Mitte einsteigen. Im Prinzip will das Hörspiel am liebsten in einem Rutsch gehört werden – und selbst dann fällt es schwer, die unglaubliche Menge an Protagonisten, die eine unglaubliche Menge an Ereignissen durchleben und dabei ständig in Ort und Zeit springen, in einen inhaltlichen Zusammenhang zu bringen. Eine Collage nannte „Buchkultur“ die Geschichte; das trifft es ganz gut. Man hört „Otherland“ nicht, um eine stringente Handlung erzählt zu bekommen, sondern um aus der Menge der Teile eine ganze Welt im Geiste heraufzubeschwören, die in all ihrer Vielschichtigkeit doch dankbarerweise immer wieder zu ihrem eigentlichen Grundproblem zurückführt: Kinder sind ins Koma gefallen, das Netz ist Schuld, aber keiner weiß, wieso genau.

Technisch ist das Hörspiel im zweiten Teil genauso perfekt und mitreißend umgesetzt wie bereits der erste Teil. Die Sprecherriege ist nicht nur unglaublich umfangreich, sie liest sich auch wie ein Who-is-Who der deutschen Sprecher- und Schauspielerlandschaft. Sophie Rois, Julia Hummer, Dietmar Mues, Nina Hoss, Ulrich Matthes, Meret Becker, Ernst Jacobi, Ulrich Noethen, Leslie Malton und Heinrich Giskes sind nur ein paar der namhaften Beteiligten. Die musikalische Begleitung ist für meinen Geschmack relativ zurückhaltend, weißt dabei indes ein enormes Spektrum auf und unterstützt schon die jeweilige Atmosphäre der Erzählszenen. Sehr im Vordergrund steht dafür die von elektronischen Effekten dominierte Ton-Kulisse, die sich, so man sich mit ihren zahlreichen Digital- und Verzerrereffekten grundsätzlich anfreunden kann, aufregend vielschichtig und abwechslungsreich präsentiert.

Im Zentrum steht jedoch, und das kann man eigentlich nicht oft genug betonen, die bemerkenswerte poetische Bildkraft von Tad Williams Romanvorlage, die auch längere Erzählpassagen, im normalen Hörspiel ja eher ungewöhnlich, zum Genuss werden lässt und wie selbstverständlich in das gesamte Hörerleben einbindet. Wer sich einmal dem direkten Vergleich aussetzt, wird den Unterschied im sprachlichen Niveau zu mancher kleineren Produktion rasch bemerken.

Fazit: Auch der zweite Teil des „Otherland“-Hörspiel-Zyklus ist mitreißend und anstrengend zugleich. Mitreißend, weil lebendige Erzähler und Sprecher vor einer großartig komplexen Ton-Kulisse die fantasievoll entworfene Geschichte vorantreiben und dabei vor allem die perfekten Übergänge von einem der zahllosen Handlungsstränge zum nächsten begeistern und das Abschalten schwer machen. Anstrengend, weil man unglaublich vielen Ereignissen parallel folgen muss, die mitunter nur zwei oder drei mal in sechs Stunden angesprochen und fortgesetzt werden, sodass man leicht aus den Ohren verliert, wer jetzt gerade wann, wo und warum eigentlich war. Eine Erzählcollage, die fordert, aber auch begeistert!


Otherland 2: Fluss aus blauem Feuer
Hörspiel nach dem Roman von Tad Williams
Walter Adler
Hörverlag 2005
ISBN: 3-89940-535-8
6 CDs, 330 min., deutsch
Preis: EUR 29,95

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