Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten

Tad Williams ist ein außergewöhnlicher Schriftsteller. Mit ungeheurer Detailfreude und einem bereits ans verschwenderisch Weitläufige grenzenden Erzählstil beschwört er seine Welten herauf; Welten, die so dicht und plastisch vor dem inneren Augen des Lesers entstehen, dass man in ihnen völlig versinken kann. Auf diese Weise entstehen Mamutwerke, wie die über 3500 Seiten starke Otherland-Tetralogie, ein wildes Virtual-Reality-Märchen der nächsten Generation, das sich hemmungslos aus der Weltliteratur bedient und trotzdem ungeschoren damit davonzukommen weiß. Der Hessische Rundfunkt und der Hörverlag haben sich der unglaublichen Herausforderung gestellt, dieses Digital-Epos zu vertonen.

von Bernd Perplies

Die Schwierigkeit, Tad William zu adaptieren, ist keine Geringe. Im Gegensatz zu anderen Schwergewichten der modernen Unterhaltungsliteratur, die in jüngerer Vergangenheit ihren Weg auf Hörspielcassette und CD fanden – namentlich „Harry Potter“ und „Der Herr der Ringe“ – sind die Werke Tad Williams geprägt durch eine hemmungslose Multiperspektivität, die mitunter bis zu acht Erzählsträngen gleichzeitig folgt. Denen ist schon in gedruckter Form nicht immer leicht zu folgen (neben der unglaublichen Langsamkeit seiner Plots der vielleicht größte Kritikpunkt am Werk Williams‘) und als Hörspiel mit seiner unglaublichen Verdichtung der Ereignisse wird dies noch schwieriger. Glücklich hier, wer die Geschichte bereits kennt, denn er vermag all die Transferleistungen zu erbringen, die so mancher harte Schnitt in der Handlung erfordert.

„Otherland“ ist im Prinzip die Geschichte einer zusammengewürfelten Gemeinschaft, die sich durch das ungeheuer ausgedehnte und wahnsinnig fortschrittliche Virtual-Reality-Netzwerk einer Geheimloge aus Supermächtigen namens der Gralsbruderschaft kämpft. Als ungebetene Gäste sozusagen durch die Hintertür eingeschleust war die eigentliche Motivation der einzelnen Mitglieder der Gruppe entweder pure Neugierde oder die Suche nach Antworten auf eine seltsame Krankheit, von der überall auf der Welt zahlreiche Kinder befallen wurden, die seitdem im Koma liegen. Im Laufe der Zeit wird daraus ein reiner Kampf ums Überleben, denn „Otherland“ scheint nicht die Absicht zu haben, sie wieder freizugeben. Durch zahllose „Spielwelten“ irrend begeben sie sich auf eine Odyssee ins Herz des Netzwerks, um dessen Geheimnis zu lüften und zurück in die Realität kehren zu können. So viel zu übergeordneten Handlung.

„Stadt der goldenen Schatten“ ist sozusagen die Exposition dieser Geschichte. Auf ca. 900 Seiten bzw. in Hörspielform über knapp 6 Stunden verteilt wird die Hinführung der Hauptcharaktere zum Otherland-Netzwerk erzählt. Wir befinden uns Ende des 21. Jahrhunderts. Renie Sulaweyo ist Computerspezialistin in Südafrika und eine Art Ersatzmutter für ihren kleinen Bruder Stephen. Als der während eines Netztrips ins Koma fällt, macht sie sich gemeinsam mit ihrem Schüler !Xabbu, einem Buschmann, daran, die Ursachen zu ergründen. Dabei erhalten sie nicht nur Hilfe von der blinden Rechercheurin Martine Desroubins, sondern erwecken auch die Aufmerksamkeit von unliebsamen Verfolgern, die ihnen mit einer Spur der Verwüstung auf den Fersen bleiben. Das Bild einer goldenen Stadt führt die drei auf die Fährte des Otherland-Netzwerkes.

Auch dem jungen Orlando Gardiner wird das Bild zum Schicksal. Der todkranke Teenager verbringt als Barbar Thargor einen Großteil seiner Zeit in dem virtuellen Fantasy-Spiel „Mittland“, wo er eines Nachts in einer Gruft das Bild dieser hyperrealistischen, aztekischen Stadt entdeckt – und prompt von einem Zombie erschlagen wird. Völlig fassungslos und fasziniert spürt er, dass er diese Stadt finden muss, und reizt auf der Suche nicht nur die Fähigkeiten seines käferartigen Computeragenten Beezle aus, sondern auch die Freundschaft zu seinem Diebes-Kumpanen Pithlit alias Fredericks, mit dem er alle seine Abenteuer erlebt. Beide Jungen müssen dabei feststellen, dass sie vor dem anderen nicht unerhebliche Geheimnisse haben.

Ein einziges großes Geheimnis ist das Leben von Paul Jonas. Der Mann, der als Soldat in den Gräben des Ersten Weltkriegs vor sich hin vegetiert, weiß nichts als seinen Namen. Zwischen Wahn und Wachen schwankend erlebt er einige äußerst surreale Ereignisse, findet sich beispielsweise nach einem Granatenangriff in einem wundersamen Schloss hoch über den Wolken wieder, wo er eine wunderschöne Vogelfrau trifft und von einem metallischen Riesen gejagt wird. Er desertiert und fällt durch ein seltsames Lichtportal in eine andere Welt. Gehetzt von seinen einstigen Kameraden Mullet und Finch beginnt er eine atemlose Odyssee durch die Welten, eine wundersamer als die andere – stets auf der Suche nach einer Antwort auf seine Existenz und die seiner phantastischen Umwelt.

Die kleine Christabel ist noch zu jung, um sich große Fragen zu stellen. Sie handelt eher aus dem Bauch heraus, als sie dem freundlichen alten Herrn Sellers, der ihr immer Märchen erzählt hat und so unglaubliche Dinge mit elektronischen Gegenständen anstellen kann, dabei hilft, aus dem Armeestützpunkt zu fliehen, in dem er bisher gelebt hat. Was genau Herr Sellers getan hat oder tut und warum ihr Vater und sein Freund Captain Parkins so aufgeregt sind, als er verschwunden ist, weiß sie nicht.

Umso mehr weiß dafür Felix Jongleur, der älteste Mann der Welt und superreicher Industrie-Magnat. Er ist der Oberste der Gralsbruderschaft und hält alle Fäden des Otherland-Netzwerkes in der Hand. Das heißt allerdings noch lange nicht, dass seine Position unangefochten ist. Innerhalb des Kreises der Mächtigen sind Intrigen an der Tagesordnung und auch sein psychopathischer Diener und Killer Dread zerrt an seiner Leine.

3500 Buchseiten wurden zu 1200 Drehbuchseiten eingedampft, die unter der Regie von Walter Adler von über 200 Sprechern zu einem 24-stündigen Mamuthörspiel umgesetzt wurden. Das scheint mir, nach dem Hören der ersten sechs CDs überraschend gut – und doch nicht gänzlich perfekt – gelungen zu sein. Die zahlreichen Erzählstränge wurden in hörgerechte Stücke zerhackt und in einem so engen Muster miteinander verflochten, dass man eigentlich keine der Handlungslinien aus dem Blick verliert. Ausgesprochen elegant gestalten sich hier die Struktur vermittelnden Einschnitte, die Autor Tad Williams selbst angeboten hat: „Netfeed“ heißen die kurzen Nachrichten, die zur Handlung zwar überhaupt nichts beitragen, aber immerhin puzzleartig ein Gesamtbild der Welt des ausgehenden 21. Jahrhunderts bilden.

Auch sonst gibt sich das Drehbuch kaum Blößen. Die Handlung wurde geschickt gekürzt (was bei Tad Williams und seinem unglaublich blumigen Schreibstil allerdings so schwer nun wieder auch nicht anmutet) und behält doch alle wesentlichen Elemente beisammen. An ein paar Stellen hingegen sind die Handlungssprünge – vor allem für den Hörer, der nicht die literarische Vorlage kennt – etwas zu groß. Wie genau fällt Stephen jetzt eigentlich ins Koma? Wieso beginnt Orlando Gardener die Identität von Fredericks nachzuforschen? Und was hat es mit diesem ominösen „Wespennest“ auf sich, zu dem Renie, ihr Vater, !Xabbu und Jeremiah Dako (wo kommt der auf einmal her?), der Assistent von Renies früherer Mentorin Susan von Bleeck reisen? Als Leser kann ich die Leerstellen zwischen den Szenen füllen, als Ersthörer der Geschichte – so wurde mir gesagt – ist das teilweise sehr verwirrend. Definitiv ein Hörspiel, das hohe Konzentration erfordert!

Die Besetzung der Sprecherrollen rangiert von grandios bis grandios fehlbesetzt. Nun kann man natürlich sagen, dass die Stimme eines literarischen Charakters im Ermessen des individuellen Lesers liegt. Insofern ist es ein glückliches Zusammentreffen, dass Figuren wie Galli, Christabel, Herr Sellers, Pithlit/Sam und Martine ziemlich exakt dem entsprechen, was ich mir auch vorgestellt habe, derweil mir Thargor/Orlando etwas zu alt wirkt, Jeremiah Dako etwas zu nasal-affektiert und Paul Jonas etwas zu maskulin (für einen bleichgesichtigen, britischen Akademiker, als der er sich im Laufe der Handlung entpuppt). Aber das akzeptiere ich als abweichende Lesart der Figuren. Nachgerade falsch klingt dagegen leider ausgerechnet die Stimme von Protagonistin Renie Sulaweyo. Renie ist eigentlich eine junge, farbige Südafrikanerin, gesprochen wird sie allerdings mit Sophie Rois von einer Österreicherin, der man nicht nur Reste des Dialekts anhört, auch verleiht sie ihrer fistelig-heiseren Stimme ständig den streitsüchtigen Tonfall einer hessischen Winzerin! Da wollen Stimme und Figur im Kopf so gar nicht zusammenkommen.

Überhaupt wurde meines Erachtens an verschiedenen Stellen der landesspezifische Dialekt einer Figur nicht berücksichtigt. So hat auch der Hacker Murat Sagar Singh die knarrig-markante Stimme Joachim Kerzels, die so überhaupt nichts indisches an sich hat. Und von all den afrikanischen Charakteren hat kein Einziger (vielleicht mit Ausnahme !Xabbus, der von Jens Harzer passend weich und leise gesprochen wird) eine hörbare Färbung in der Sprache. Binnenfiktional könnte man natürlich nicht ganz ohne Recht behaupten, dass die Figuren ohnehin alle in ihrer Muttersprache sprechen und somit für sich keinen hörbaren Dialekt realisieren. Nichtsdestoweniger hätte es meines Erachtens besser zu den Figuren gepasst, wenn man ihre Nationalität in ihre Stimme hätte einfließen lassen – wie immerhin auch geschehen bei der Französin Martine Desroubins.

Diese Kritik schmälert den Gesamteindruck des Hörspiels indessen kaum. Zu spannend ist die Geschichte und zu perfekt ist die sonstige Tonkulisse. Von den Schützengräben des Ersten Weltkriegs bis zum Cyberspace des 21. Jahrhunderts entfalten die Musik und die Soundeffekte eine Atmosphäre, die einen regelrecht in die Handlung hineinzieht. Monotone Musik, Regen und fernes Maschinengewehrfeuer beschwören die triste Szenerie menschlichen Sterbens ebenso plastisch herauf wie elektronische Rhythmen, verzerrtes Stimmgeschnatter und digitales Spielhallengetöse im schönsten MIDI-Format die virtuelle Sphäre menschlichen Lebens. Ich habe mir seit Jahren kein Hörspiel mehr zu Gemüte geführt – war nicht so mein Medium – aber „Otherland“ musste ich von der ersten bis zur letzten CD in praktisch einem Rutsch durchhören (und das hat nicht nur damit zu tun, dass ich mich auf einer 8-stündigen Autofahrt befand!).

Fazit: Mit „Stadt der goldenen Schatten“, dem ersten Band von Tad Williams „Otherland“-Tetralogie, ist dem Hessischen Rundfunk und dem Hörverlag, Regisseur Walter Adler, seinem Team und den vielen, vielen Sprecher ein wirklich großartiges Hörerlebnis gelungen. Auch wenn die komplexe Geschichte dem Hörer wirklich volle Konzentration abverlangt (und demjenigen, der die Romane nicht kennt, möglicherweise noch immer zu schnell ist) und auch wenn ein, zwei, drei Rollen wirklich hätten passender besetzt werden können, ist die Geschichte für Science-Fiction-Fans ein Ohrenschmaus erster Güte (und – ganz nebenbei – erheblich fixer und gemütlicher zu bewältigen als die 3500 gedruckten Seiten der Buchvorlage ;-) ). Ich freue mich schon auf die Fortsetzungs-CDs.


Otherland 1: Stadt der goldenen Schatten
Hörspiel nach dem Roman von Tad Williams
Walter Adler
Hörverlag 2004
ISBN: 3899401166
6 CDs, 330 min., deutsch
Preis: EUR 29,95

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