New York – Im Schatten der Wolkenkratzer

Alicia Keys, Billy Joel und Frank Sinatra haben sie besungen, Regisseur Woody Allen hat ihr ein filmisches Denkmal gesetzt: New York, „the Big Apple“, die Stadt, die niemals schläft. Eine Stadt mit vielen Facetten, gleich mehrerer Städte in einer. Welch wunderbarer Schauplatz spannender Abenteuer im Kampf gegen widriges Sternengezücht und anderes Mythosungetier!

von Simon Ofenloch

 

Agatha Christie soll einst gesagt haben, dass es lächerlich sei, eine Kriminalgeschichte in New York anzusiedeln, da New York selbst eine Kriminalgeschichte sei. Über New York existieren viele Ansichten. Die Stadt hat einen Ruf, der alles umfasst, Gutes wie Schlechtes. Sie ist eine Stadt mit einer wechselvollen Geschichte, ein Mikrokosmos der ganzen Welt, Schmelztiegel der Nationalitäten, Zentrum von Handel und Politik, von Geschäftsinteressen und Machtkämpfen, ein Flickwerk von Bezirken und Vierteln mit ganz eigenen Identitäten. In der fortschrittlichen Küstenstadt, die auch immer der Drang zur Weltstadt prägte, ging es stets hoch her, nicht zuletzt in den „Roaring Twenties“, in denen Howard Phillips Lovecraft seinen Cthulhu-Mythos maßgeblich verortet hat.

Nach einem Vorwort des deutschen Redakteurs Heiko Gill beginnt der Band „New York – Im Schatten der Wolkenkratzer“ mit einem ersten Überblick über die facettenreiche Stadt. Eine geschichtliche Kurzdarstellung von der Entstehung der ersten Siedlung bis zum Stadtbild der 1920er Jahre wird von einer tabellarischen Chronologie wichtigster Ereignisse komplettiert. Ansonsten gibt es interessante erste Informationen zur Prohibition im New York der „wilden Zwanziger“, zur sozialen Ordnung und zur Klassengesellschaft, zu den seinerzeit gebräuchlichen Fortbewegungsmitteln und zum Kulturangebot der Stadt. Dazwischen immer wieder zusätzliche Detailangaben wie die Namen der damaligen Bürgermeister und Gouverneure, typische Krankheiten in den Mietskasernen, New Yorker Brücken oder jährliche Veranstaltungen. Nützliche Adressenangaben, eine kuriose zeitgenössische Datensammlung und Ratschläge für New-York-Touristen runden zusammen mit einer Aufzählung von zwölf Horrorfilmen, deren Schauplatz New York ist, das erste Einführungskapitel ab.

Das für die deutsche Veröffentlichung neu hinzugekommene zweite Hauptkapitel des Buches handelt von der kriminellen Unterwelt und insbesondere dem organisierten Verbrechen in New York City. In sechs Teile untergliedert, werden die Karrieren verschiedener Gangs und Syndikate im Laufe der Prohibitionszeit nachgezeichnet, mit Spielwerten wichtiger Persönlichkeiten. Im Anschluss finden sich ein paar spärliche Vorschläge zur Verknüpfung der genannten historischen Geschehnisse mit Mythoselementen – und wieder einige Filmempfehlungen.

Beim dritten Hauptkapitel „Echtes Grauen in New York“ handelt es sich ebenfalls um einen neu hinzugekommenen Block. Dieser widmet sich dem historisch realen, bis heute in vielen Punkten ungeklärten Kriminalfall der Josefina Terranova, welcher 1906 in New York für erschreckende Schlagzeilen sorgte. Hauptsächlich durch übersetzte Zeitungsartikel der damaligen Zeit werden die aufsehenerregenden Geschehnisse um den Mord des italienischstämmigen Mädchens an ihren Zieheltern dargelegt. Auf den rätselhaften Vorkommnissen lässt sich einiges an Spielhandlungen aufbauen. Zudem dient die Schilderung des Kriminalfalls zur Information über typische Abläufe im amerikanischen Ermittlungs- und Erkenntnisverfahren und im US-Strafsystem.

In den nachfolgenden Hauptkapiteln vier bis zehn findet sich der eigentliche Quellen-Hauptteil des Buches. Auf diesen Seiten wird jeder wesentliche Stadtteil detailliert und methodisch beschrieben: Manhattan, The Bronx, Queens, Brooklyn und Staten Island. Das dicht besiedelte Manhattan erstreckt sich gar über drei Kapitel mit dem jeweiligen Fokus auf Uptown Manhattan, Midtown Manhattan und Downtown Manhattan. Im Kapitel über Staten Island werden überdies noch die New Yorker Flussinseln vorgestellt. Die einzelnen Stadtteile sind in Viertel aufgeteilt, denen jeweils Unterkapitel gewidmet sind. Stets mit zahlreichen Detailinformationen und einzelnen Biographien mit Spielwerten, die zur Erstellung eigener Abenteuer herangezogen werden können.

Den Abschluss des Bandes bilden drei spielfertige Abenteuerentwürfe, allesamt übliche Ermittlungsszenarien. „Pinselstriche“ von Alexander Dotor und Peter Schott konfrontiert die Charaktere mit Kunst und Wahnsinn und erfordert zur Lösung hohe Aufmerksamkeit. „Tunnel mit Aussicht“ von Bernhard Bihler setzt den Beginn des Abenteuers hinter ein Mythos-Ritual. Die Spielcharaktere müssen dieses nicht verhindern sondern aufklären – und nachkommendes Schlimmeres bekämpfen. Das letzte Abenteuerangebot „Der Fluch des Schwarzen Mannes“ von Routinier Mirko Bader wählt einen ähnlichen Ansatz. Ein gerade noch missglücktes Ritual, das nichtsdestotrotz Opfer gefordert hat, setzt eine Recherche in Gange, die in der Entdeckung und bestenfalls der Verhinderung einer anstehenden schrecklichen Beschwörung gipfelt.

„New York - Im Schatten der Wolkenkratzer“ trägt die Bezeichnung „Quellenbuch“. Dabei handelt es sich tatsächlich um einen weiteren kombinierten Quellen- und Abenteuerband aus dem Hause Pegasus. Der deutschen Veröffentlichung liegt der englische Originalband „Secrets of New York“ von William Jones zugrunde, der 2005 bei Chaosium erschien. Gegenüber diesem US-amerikanischen Begleitbuch zu „Call of Cthulhu“ wurde einiges verändert und erweitert, Beschreibungen von Vierteln und Stadtteilen ergänzt, Themenkomplexe wie das organisierte Verbrechen hinzugefügt und die ursprünglich enthaltenen Abenteuer durch eigene, neue ersetzt, die so als Erstveröffentlichungen erscheinen.

Das äußerst informative und anregende Buch ist wie von Pegasus gewohnt qualitativ hochwertig gefertigt, im robusten Hardcover mit ordentlicher Bindung und Lesebändchen. Passende Bilder geben den Texten den letzten Schliff – allerdings trifft man bei den Porträtfotografien zu fiktiven Figuren mitunter auf aus anderen Veröffentlichungen bekannte Gesichter. Ansonsten präsentiert sich der Inhalt im üblichen zweispaltigen Layout. Haupt- und Zwischenüberschriften sorgen für eine einigermaßen übersichtliche Struktur.

Die Abenteuer, welche mit zusätzlich interessanten Anhängen und ansprechenden Handouts aufwarten können, sind originell und spannend – allerdings auch wirklich fordernd und eher nichts für Rollenspiel- oder „Call of Cthulhu“-Einsteiger.

Am Ende des Bandes findet sich die Reproduktion einer kleinen Karte von Manhattan in den 1920ern, gefaltet in einer kleinen Plastikhalterung auf der hinteren Umschlaginnenseite. Diese ist leider nicht besonders detailreich, kann aber zur groben Orientierung dienen.

Fazit: Ein Buch, so vielschichtig und spannend wie die Stadt, die es beschreibt. Voller hilfreicher Informationen und Anregungen, mitunter etwas verwirrend strukturiert und stellenweise irritierend in der undeutlichen Vermischung von realen Fakten und fiktiven Zusätzen. Nichtsdestotrotz ein weiterer Pegasus-Launemacher auf Mythos-Abenteuer im urbanen Setting: „I’m in a New York state of mind.“


New York – Im Schatten der Wolkenkratzer
Quellenbuch
Heiko Gill, William Jones, Mirko Bader u.a.
Pegasus Spiele 2010
ISBN: 978-3-941976-05-4
224 S., Hardcover, deutsch
Preis: EUR 29,95

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