New Orleans - City of the Damned

Riechst du, wie das Blut durch ihre Adern pulsiert? Wilde Rhythmen peitschen sie auf, bringen ihre tanzenden Körper in der schwülen Hitze der Nacht zum Dampfen. Schweißperlen bilden sich auf ihren ekstatischen Gesichtern und rollen glitzernd die schlanken, nackten Hälse herab. Ob hell- oder dunkelhäutig kümmert dich nicht, während du unter ihnen, den Sterblichen, durch die belebten Gassen streifst, ein dunkler Jäger unter zahllosen potenziellen Opfern, deren animalischen Triebe im Mardi-Gras-Fieber an die Oberfläche drängen und die Stadt der Sünde zum Kochen bringen. Willkommen, Neonate, in New Orleans.

von Bernd Perplies

„City of the Damned“ – Stadt der Verdammten – wird New Orleans auch genannt, im Titel des gleichnamigen Quellenbuchs zu „Vampire: The Requiem“. Die Stadt trägt ihren Namen – zumindest in der Welt der Dunkelheit – zu Recht: Schon die menschliche Bevölkerung steht im Bann einer wilden Melange aus strengem Katholizismus und heidnischem Voodoo, französischer Dekadenz und afrikanischer Sinnenfreude, fiebriger Schwüle und reinigendem Gewitter. Eine Kriminalitätsrate, die Untaten exotischster Natur umfasst und ihresgleichen in amerikanischen Städten sucht, hat zudem im Laufe der Jahrhunderte New Orleans in eine Stadt verwandelt, die von den Geistern Verstorbener regelrecht heimgesucht wird. Und zu guter Letzt sind da die Vampire, ein Gesellschaft unter der Oberfläche, die in dem Sündenbabel am Mississippi gedeiht wie nirgends sonst und daher die Stadt fest in ihrem Griff hat. Ein Ort, der regelrecht prädestiniert scheint für den Beginn einer Chronik.

Das Quellenbuch umfasst 144 Seiten und kommt als edel aufgemacher Hardcoverband daher. Die Coverillustration fängt die Stimmung bereits gut ein, wenngleich vor allem durch die sinnliche Bestie von einer Frau im Mittelpunkt als den eher gothisch anmutenden Friedhof um sie herum. Das Innere des Buches weist die serientypischen Zierleisten und -schriften auf und gibt sich einmal mehr ausgesprochen textlastig (oder -freudig, je nach Standpunkt). Die Illustrationen sind eher von unterschiedlicher Güte und reichen von stimmungsvollen Gemälden zu relativ kruden Bleistiftzeichnungen.

Der Inhalt teilt sich in eine Einleitung, sechs Kapitel und einen Anhang. Zur Einstimmung wird uns – typisch für White-Wolf-Produkte – eine atmosphärische Episode aus dem Leben im Big Easy erzählt, die sich zudem am Ende netterweise als Prolog für das kurze Abenteuer „The Dead Travel Fast“ im Anhang entpuppt. Danach folgen die obligatorischen Hinweise zur Verwendung des Quellenbuchs sowie ein sehr netter Kurzglossar mit gängigen Slang-Ausdrücken, die in New Orleans von Bedeutung sind, und eine Liste, die Bücher, Filme, Musik und Websites zur Vertiefung in die Stadt an sich, die Südstaaten-Atmosphäre und die Religion des Voodoo aufführt.

„A Look Back at the Big Easy“ erzählt uns die wechselhafte Geschichte New Orleans‘ von etwa 1720 bis heute. Sie baut auf die Timeline auf, die im Grundregelwerk präsentiert wird – so wie das ganze Buch praktisch eine umfangreiche Ausarbeitung des New-Orleans-Anhangs aus „Vampire: The Requiem“ ist (die Autoren bestätigen dies selbst und unterscheiden insofern, als dass die Informationen im Campaign Setting primär für Spieler gedacht sind, die innerhalb des Quellenbuchs derweil eigentlich ausschließlich für den Spielleiter). Im Zentrum des historischen Abrisses stehen natürlich die Aktivitäten der Vampirgesellschaft, die auch deshalb wichtig zu kennen sind, weil die meisten Akteure, die damals ihre Schandtaten trieben, auch heute noch auf dem politische Parkett agieren.

Kapitel 2, „Points of Entry“, bietet eine ganze Reihe Informationen. Zunächst erfolgt ein grober Überblick über die Atmosphäre und das Leben in New Orleans, der in eine detaillierte Aufschlüsselung der unter der Herrschaft von Vampirprinz Vidal geltenden Gesetze und Traditionen übergeht. Dabei werden auch die generellen Positionen der verschiedenen Machtgruppen, also Covenants, im System Vidal beleuchtet. Im Anschluss findet sich ein kleiner Reiseführer durch die Straßen der Mississippi-Metropole. Die verschiedenen Stadtteile und inwiefern sie für die Vampirgesellschaft von Bedeutung sind werden sukzessive kurz vorgestellt. Leider ist die Karte der Stadt sehr klein abgedruckt und nicht besonders detailfreudig. Als Hilfe für den Spielleiter wäre hier mehr wünschenswert gewesen – auch wenn man natürlich argumentieren kann, er möge sich doch einfach eine aktuelle Stadtkarte von New Orleans irgendwo kaufen oder downloaden, ist die Metropole in der Welt der Dunkelheit doch zumindest topographisch mit der in unserer Realität identisch.

Die nächsten drei Kapitel, „Games of the Elders“, „Wheels Within Wheels“ und „Working the Street“ befassen sich auf drei Ebenen mit den untoten Bewohnern New Orleans‘. Zunächst werden die Geheimnisse und Intrigen der drei „major players“ der Stadt, des tyrannischen Prinzen Augusto Vidal, des Lords des prestigeträchtigen Französischen Viertels, Antoine Savoy sowie des Voodoo-Anhängers Baron Cimitiere, vorgestellt, wobei auch ihre direkte Gefolgschaft, sofern sie mit in der Oberliga spielt, betrachtet wird. Danach folgt ein vergleichbarer Abriss für die Ancillae der Stadt, zuletzt die Neonates, also die unerfahrenen, kleinen Rädchen im Gefüge, wie sie auch die Spieler anfangs sein werden. In den mannigfaltigen Verstrickungen der verschiedenen Lebensläufe zeigt sich einmal mehr die Fähigkeit und die Begeisterung der Autoren der White-Wolf-Storyteller-Systeme, komplexe Gesellschaftsbilder zu entwerfen. Wehe dem Spielleiter, der sich all diese Bündnisse, Feindschaften, Täuschungen und Gegentäuschungen merken muss. In gewisser Weise wird auch er vermutlich, wie die Spieler, Abenteuer für Abenteuer tiefer in das Geflecht der Beziehungen eindringen – oder sich im Vorfeld sehr genau und mit einem Berg von Notizen durch den Text, der stellenweise Krimiqualitäten erreicht, durcharbeiten müssen.

Am Ende jedes Kapitel befinden sich die Fotos und Spieldaten der vorher beschriebenen Charaktere, wobei netterweise nicht einfach nur die Bilder des Grundregelwerks erneut abgedruckt wurden, sondern stattdessen andere Portraits Anwendung fanden.

Kapitel 6, „Storytelling“, kann man – zumindest als Veteran – relativ schadlos überblättern. Im Wesentlichen werden noch einmal die gleichen Fragen aufgeworfen, die schon im Grundregelwerk den Denkprozess des Leser anregen sollten, nur dass sie diesmal in den Kontext des Schauplatzes New Orleans gestellt wurden. Dazu werden ein paar Tipps zur thematischen Orientierung der Chronik gegeben und welche Konflikte „X vs. Y“ auftreten können. Nötig wäre dieses Kapitel nicht gewesen, denn die Fülle an Informationen in den Kapiteln davor sollte bereits den Geist eines jeden Spielleiters in kreatives Rotieren versetzt haben.

Zum Warmspielen findet sich im Anhang das kurze Abenteuer „The Dead Travel Fast“, das in Form eines Mordkomplotts der Einführung der Charaktere in das Setting New Orleans dient, wobei diese auch gleich eine ganze Reihe wichtiger Gestalten kennen lernen können. Es eignet sich als Beginn oder Teil der Frühphase einer Chronik, sollte aber nicht zu spät eingeschoben werden. Wie sich übrigens das Leben der Charaktere nach diesem Einstieg entwickelt, welch düstere Geheimnisse sie noch alle aufdecken und welche zweifelhafte Bündnisse sie noch alle eingehen können, darüber geben eine Reihe über das ganze Buch verteilte „Kästen“ Auskunft, die jeweils an passender Stelle das dort Gelesene konkret auf das Rollenspiel hin noch einmal abklopfen. So werden manchmal ein paar zusätzliche Details für den Spielleiter enthüllt, zumeist aber finden sich dort Tipps, wie man die beschriebenen Figuren, Schauplätze oder Konflikte in die eigene Chronik einbauen kann.

Fazit: „New Orleans – City of the Damned“ ist ein Regional-Quellenbuch, das wirklich voller Ideen steckt. Wenngleich alle Belange Sterblicher in Bezug auf das Leben im Big Easy stark vernachlässigt werden (aber wofür gibt es Reiseführer, die man in seiner Fantasie nur ein bisschen düsterer gestalten muss), finden sich mehr als genug Informationen über die ansässige Gruppe der Kindred und ihre namhaften Persönlichkeiten. Wer seine Chronik in einer religiös aufgeladenen, schwül-sündigen Atmosphäre aufziehen will, sollte die Stadt am Mississippi in der Hitze der Nacht erleben (lassen).


New Orleans – City of the Damned
Quellenbuch
Ari Marmell, C. A. Suleiman
White Wolf 2005
ISBN: 1-58846-248-X
144 S., Hardcover, englisch
Preis: $ 26,99

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