Lovecraft-Bibliothek 16: Der Judas-Schrein

In einem abgeschieden gelegenen, österreichischen Bergdorf wurde ein Mädchen bestialisch ermordet. Das mit dem Fall betraute Ermittlerteam der Wiener Polizei kommt einem Geheimnis aus der Vergangenheit und einer groß angelegten Verschwörung auf die Spur. Als der nahegelegene Fluss aufgrund anhaltenden Regens über die Ufer tritt, wird die Lage brenzlig. Von Hochwasser umgeben und von der Außenwelt abgeschnitten, müssen sich die Beamten nicht nur gegenüber den verschlossenen Dorfbewohnern behaupten. Andreas Grubers Romandebüt erscheint als Band 16 in der von Frank Festa herausgegebenen Reihe „H. P. Lovecrafts Bibliothek des Schreckens“.

von Simon Ofenloch

 

Besuchen Sie Österreich! Fahren Sie in die Berge! Aber machen Sie einen großen Bogen um das Bergdorf Grein am Gebirge! Vermutlich existiert es sowieso nicht mehr. Denn angeblich ist es Opfer einer Flutkatastrophe geworden. Und vielleicht hat es gar nie existiert. Außer in der Imagination des österreichischen Autors Andreas Gruber. Und in dessen Romandebüt „Der Judas-Schrein“.

Grein am Gebirge ist alles andere als das perfekte Touristenziel. Das muss auch der Wiener Kriminalpolizist Alexander Körner erkennen, als er von seiner Vorgesetzten zur Aufklärung eines bizarren Todesfalles aus Wien in die österreichischen Berge geschickt wird. Ein vierzehnjähriges Mädchen ist zu Tode gekommen. Just am Tag ihres Geburtstages. In Wien drohen Körner wegen fahrlässigen Verhaltens bei einem vorangegangenen Einsatz Probleme. Da kommt der auswärtige Auftrag gerade recht. Weniger angenehm ist Körner der konkrete Tatort, denn Grein am Gebirge ist ihm nicht unbekannt. Dort hat er seine Kindheit verbracht und seine Eltern bei einem fürchterlichen Hausbrand verloren.

In dem Bergdorf brechen alte Wunden auf. Und alte Animositäten. Beides erschwert Körners Ermittlungsarbeit. Doch zusammen mit seinem befreundeten Team, das aus einer Polizeipsychologin, einer Gerichtsmedizinerin, einem Fotografen und einem Spurensicherer besteht, kommt er den Geheimnissen des Dorfes auf die Spur.

Der inszenierte Freitod eines Verdächtigen, der als Sündenbock herhalten soll, kann die Beamten nicht täuschen. Schnell wird klar, dass es sich nicht nur um einen Täter, sondern um eine Gruppe von Tätern handelt, und dass es einen Zusammenhang geben muss zwischen den aktuellen Ereignissen, einem Grubenunglück im nahegelegenen Bergwerk im Jahre 1937 und dem Lynchmord am Dorfpfarrer vor mehr als hundert Jahren. Und dann existiert da ja auch noch dieses eigenartige Konstrukt in der Kirche, der „Judas-Schrein“. Etwas Seltsames, etwas Unheimliches scheint Einfluss auf den Ort auszuüben.

Worauf die Beamten stoßen, bedroht sie schließlich selbst. Umso mehr, als sie in Grein am Gebirge eingeschlossen und von der Außenwelt abgeschnitten sind. Schuld daran ist das Wetter. Andauernder Regen hat den benachbarten Fluss Trier über die Ufer treten lassen und Zufahrtsbrücken zum Dorf unpassierbar gemacht. Doch in den Fluten könnte auch die Lösung zur Beendigung der albtraumhaften Zustände liegen.

Mit „Der Judas-Schrein“ ist Andreas Gruber ein spannender, äußerst unterhaltsamer und insbesondere gegen Ende regelrecht beklemmender Thriller gelungen. Atmosphärisch gelingt es dem Roman, ähnlich eindringlich wie seinerzeit dem Kinofilm „Sieben“, durch die Thematisierung andauernder Regenfälle eine permanent depressive und belastende Stimmung zu erzeugen, die sowohl den Handlungsträgern als auch dem Leser aufs Gemüt zu schlagen vermag.

Mit der Hauptfigur Alexander Körner hat Gruber einen Charakter erschaffen, der nicht wirklich sympathisch ist, aber glaubwürdig. In seinem Handeln agiert er völlig nachvollziehbar. Ein Antiheld mit Identifikationspotential.  Der Leser erfährt einiges über seine Gefühlswelt und sein Leben, das raffiniert mit den unheimlichen Geschehnissen in Grein am Gebirge verbunden ist.

Gruber erzählt seine Geschichte auf drei Handlungsebenen. Die polizeilichen Ermittlungen in der Gegenwart sind durchsetzt mit Rückblenden zu Geschehnissen im örtlichen Bergwerk im Jahre 1937 und Passagen aus einem Tagebuch, die Begebenheiten aus dem Jahr 1864 schildern. In letzteren Abschnitten wirkt manches etwas konstruiert. Zum Beispiel ist es wenig glaubhaft, dass der Gehilfe des Pfarrers einst in seinem Versteck in der Kirche Eintragungen in sein Tagebuch macht, während der Mob des Dorfes seinem Herrn ans Leder geht und das Gebäude in Brand steckt.

Nichtsdestotrotz muss man Andreas Gruber ein nahezu uneingeschränktes Lob aussprechen: Sein „Judas-Schrein“ liest sich fast wie ein Roman von Stephen King, nur spielt die Handlung eben in einem österreichischen Umfeld. Tatsächlich ist Gruber eine erfrischende Variation gern gesehener beziehungsweise gern gelesener Horror-Elemente gelungen.

Der Bezug zum literarischen Werk von Howard Phillips Lovecraft erschließt sich inhaltlich. Wie der US-amerikanische Schriftsteller erzählt Gruber mit „Der Judas-Schrein“ eine Geschichte des übernatürlichen Schreckens. Viele Erzählungen von Lovecraft sind als persönliche Zeugnisse, Briefe oder Tagebücher angelegt. Sie schildern, wie das übermächtige Fremde in das Leben gewöhnlicher Menschen einbricht, meist in der Folge von Nachforschungen und Experimenten, die man besser unterlassen hätte. Dabei sind die Menschen dem Übernatürlichen schutzlos ausgeliefert und verfallen schließlich dem Wahnsinn. Nicht anders ergeht es dem früheren Pfarrer von Grein am Gebirge. Der „kosmische Schrecken“ ist gegen Ende des Buches allgegenwärtig. Mit seiner Vision einer übermächtigen Bedrohung durch unbekannte Monsterwesen steht Gruber völlig in der Tradition von Lovecraft.

Fazit: Andreas Gruber hat eine Hommage an den amerikanischen Meister des Fantasy-Horrors Howard Phillips Lovecraft verfasst, die auch prima ohne diesen Bezug funktioniert, in diesem Zusammenhang aber an kontextueller Tiefe gewinnt. Ansonsten ein gelungener, atmosphärisch dichter, spannender Romanerstling, der auf mehr des selben Autors hoffen lässt.


Der Judas-Schrein (H. P. Lovecrafts Bibliothek des Schreckens #16)
Horror/Mystery-Roman
Andreas Gruber
Festa Verlag 2005
ISBN: 3-935822-83-9
464 S., Hardcover, deutsch
Preis: EUR 24,00

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