von Michael Wilhelm
Rokugan ist ein Land im ständigen Ausnahmezustand. Im Südwesten liegen die Schattenlande, beherrscht von finsteren Mächten, die die Clans des Kaiserreichs ständig mit Dunkelheit und Krieg überziehen. Im Osten wird das Reich vom Meer des seefahrenden Mantis-Clans begrenzt. Und der Nordwesten grenzt an hohe Gebirgszüge, deren Überquerung nur den Weg ins Land des brennenden Sandes verbirgt. In hohem Maße vom Rest der Welt und den jenseits der Berge und Wüsten lebenden Völkern isoliert, ist Rokugan doch bei weitem nicht frei von inneren Konflikten. Zwischen manchen der Clans herrscht selbst in scheinbaren Friedenszeiten ein allenfalls unbequemer Waffenstillstand. Zu unterschiedlich sind ihre Mentalitäten und Geschichte.
Der intrigante Scorpion-Clan, die edlen Cranes, die kriegerischen Crabs, oder die Unicorns, die als halbe Gaijin lange jenseits der Wüste im Exil gelebt haben: Sie alle verfolgen unterschiedliche Ziele. Auch wenn im Falle einer Bedrohung durch die von Dämonen, Ogern und Goblins bevölkerten Schattenlande sich das Volk des Reiches unter dem Banner des Kaisers sammelt, ist man doch weit von innerem Frieden entfernt. Wie im historischen Japan auch herrscht ein ständiger Kampf um die Vorherrschaft der rivalisierenden Clans im Kaiserreich. Dabei ist die Familie des Kaisers, als direkte Nachfahren von Sonne und Mond, außen vor. Doch auch die herrschenden Blutlinien stammen in direkter Linie von Kami ab, den Geistern oder Göttern des japanischen Animismus.
Die Welt Rokugan ist schwer geprägt von animistischen Vorstellungen. In jeder Blume, jedem Stein und Ast oder jeder Quelle wohnt ein Geist, der jedoch meist schläft, aber von Priestern und Zauberkundigen beeinflusst werden kann. Diese Shugenja genannten Magiekundigen bilden nur eine der Optionen der Charakterbildung. Denn wie im japanischen Mittelalter stellen die Samurai als herrschende Klasse zwar nur einen Bruchteil der Bevölkerung dar, sind aber als Adel die einzigen, die annähernd ihr Schicksal in die Hand nehmen können. Die leibeigenen Bauern sind eben im wahrsten Sinne des Wortes leibeigen und so kommen sie als Spielercharaktere nicht in Frage.
Die Spieler werden also ihre Figuren aus den Reihen der Samurai rekrutieren, wobei dies nicht zwingend meisterhafte Schwertkämpfer sein müssen. „Legend of the Five Rings“ sieht genauso vor, dass Kundschafter, Höflinge und Shugenja-Priester das Spiel bestimmen. Im Gegensatz zum historischen Japan können alle diese Positionen aber auch von Frauen ausgeübt werden. Abhängig von der Auswahl der Charaktere liegt dann der Schwerpunkt eher bei höfischen Intrigen in der kaiserlichen Hauptstadt oder im Kampf gegen die Schergen der Schattenlande. Spieler und Spielleiter sind auf jeden Fall angehalten, ihre Wahl aufeinander abzustimmen, sodass nicht plötzlich eine Gruppe von Höflingen und Priestern einer schwer kampflastigen Kampagne im Grenzgebiet gegenüberstehen. Eine Sonderstellung haben dabei Mönche inne. Diese sind zwar nicht Mitglieder der adligen Samuraikaste, haben aber aufgrund ihrer Weisheit genug Ansehen auch bei Samurai, um als Spielercharaktere in Frage zu kommen. Dabei stehen nicht nur Shaolin-ähnliche Kriegermönche, sondern auch fast kampfuntaugliche Mystiker und Gelehrte zur Auswahl.
Und so wählt jeder Spieler bei der Charaktererschaffung neben einem Clan, der mehr als nur seinen Familiennamen bestimmt, auch eine Schule. Entsprechend der aus Kung Fu- (auch wenn das mehr nach China gehört) und Schwertkämpfer-Filmen bekannten Schulen, können hier aber nicht nur Kampftechniken erlernt werden. Auch Höflinge, Shugenja, Kundschafter und Shinobi (wie Ninja, nur mit mehr Ehre ausgestattet) lernen ihre Fähigkeiten in Schulen. Neben Clan und Schule wird die Charaktererschaffung durch die Auswahl von Fertigkeiten, Vor- und Nachteilen, Hintergrundoptionen und den nummerischen Skalen für Ehre, Ruhm und Status abgerundet. Einen zentralen Aspekt spielen dabei die Werte für die vier Elemente und Void (Leere). Diese übernehmen hier die Rolle der einem Charakter zugrunde liegenden Attribute, die zwar durch Training aber nicht durch Lernen oder Übung verbessert werden können. Erde steht für Ausdauer und Willenskraft, Wasser für Stärke und Wahrnehmung, Feuer für Geschicklichkeit und Intelligenz und Luft für Reflexe und Wachsamkeit. Das mystische Element Void stellt die Verbindung zur magischen Welt der Geister und Ahnen dar. Es hat am wenigsten greifbare Effekte, ist aber für Mönche und Shugenja von großer Bedeutung.
„Legend of the Five Rings“ nutzt ein sehr elegantes und innovatives Würfelsystem. Basis jeden Würfelwurfes ist eine Anzahl an 10-seitigen Würfeln entsprechend der Höhe des zugrunde liegenden Elementes. Für einen Angriffswurf mit dem Katana werden die Werte für Geschicklichkeit (Feuer) und der Fertigkeitswert addiert. Steht beides bei Wert 3 werden also sechs Würfel geworfen. Von den sechs geworfenen behält man nun eine Zahl in Höhe des Elementes, in diesem Falle drei. Deren Augenzahlen werden addiert und mit einem Zielwert verglichen. Ist der Wurf gleich oder höher, gilt die Aktion als erfolgreich. Ein Würfel mit 10 „explodiert“, das heißt er kann noch mal geworfen werden und wird zur Gesamtsumme addiert. Das heißt es ist auch trotz hohem Zielwert immer möglich, Erfolg zu haben.
Im vorliegenden Band befindet sich dabei so ziemlich alles, was zum Spiel nötig ist. Die nach den fünf Elementen benannten Kapitel werden jeweils durch eine kleine zum Thema passende Episode eingeleitet. Das „Book of Earth“ beschreibt mit den Clans, der Geschichte Rokugans, den Gebräuchen und Gesetzen sozusagen die Basis der Hintergrundwelt. Das „Book of Water“ widmet sich den zentralen Spielmechanismen und der Charaktererschaffung mit allen zugrunde liegenden Aspekten, wie Fertigkeiten, Schulen, Vor- und Nachteilen und der Anwendung von Status, Ruhm und Ehre. Im „Book of Fire“ finden sich alle kampfrelevanten Informationen, wie Initiative, Waffendaten und der Kampfablauf, sowie alles zur Charakterentwicklung mittels Erfahrungspunkten. Im „Book of Air“ werden religiöse und magische Aspekte dargelegt. Zaubersprüche und magische Gegenstände, die besonderen Fähigkeiten der Mönche und ihre Schulen sowie die von den Schattenlanden ausgehende und auf Blutopfern basierende Maho-Zauberkunst und die besonderen Kräfte der „Bösen“. Das abschließende „Book of Void“ ist dem Spielleiter vorbehalten. Neben Daten für Tiere und Schattenland-Kreaturen findet sich eine Fülle von Informationen über die Geographie Rokugans, unterstützt durch die Karten des Landes in der Bucheinbandinnenseite, sowie zahlreiche Quellenangaben zur Inspiration für Spieler und Spielleiter gleichermaßen.
Fazit: „Legend of the Five Rings“ ist ein echtes Meisterwerk. Nicht nur äußerlich weiß der vorliegende, komplett farbig gedruckte Band restlos zu überzeugen, sondern auch inhaltlich. Neben einem außergewöhnlich originellen Setting, das nach wie vor seinesgleichen sucht, ist auch das Regelwerk hervorragend auf die Ansprüche der Samurai Rokugans zugeschnitten. Jegliche, gleich ob martialische, höfische oder magische Situation wird durch die im Werk vorhandenen Regeln abgedeckt. In der heutigen Flut an Material, stellt das „Legend of the Five Rings Roleplaying Game“ ein wahres Juwel dar, das in einem Band auf 318 Seiten mehr Abenteuer und Intrige zu bieten hat, als manches Regale füllende Komplettwerk.
Legend of the Five Rings Roleplaying Game 3. Edition
Grundregelwerk
Rich Wulf, Shwan Craman, Seth Mason u. a.
Alderac Entertainment Group 2005
ISBN: 1-59472-035-5
318 S., Hardcover, englisch
Preis: $ 39,95
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