Labyrinth der Spiegel

Internet war gestern. Die Zukunft gehört „der Tiefe“, einer virtuellen Realität, die ein simples 3D-Konstrukt mit Hirnmanipulation verbindet und daraus eine Welt schafft, die täuschend echt wirkt, in der aber alles möglich ist. Der junge Leonid ist ein Diver, einer der wenigen, der den Täuschungen der Tiefe widerstehen kann – und damit einer der begehrtesten Menschen des Planeten, wenn es um virtuelle Probleme geht. An einem besonderen Fall hat er jedoch ganz schön zu knabbern.

von Frank Stein

Manchmal frage ich mich, ob der russische Erfolgsschriftsteller Sergej Lukianenko womöglich heimlich ein Rollenspieler ist, es aber niemandem verrät. Schon mit seiner höchst erfolgreichen „Wächter“-Reihe, die von Genre-Fans weithin gefeiert wurde, bewegte er sich auf Pfaden, die mich an die „World of Darkness“ von White Wolf erinnerten. Sein 1996, also etwa zehn Jahre früher, erschienener Roman „Labyrinth der Spiegel“ (hierzulande mit knapp fünfzehn Jahren Verspätung veröffentlicht) kommt mir unterdessen vor wie die russische Version von „Shadowrun“.

Erzählt wird die Geschichte von Leonid, einem Computerexperten und sogenannten Diver. Gerade letzteres macht ihn zu einem gefragten Mann, denn nur Divern gelingt es, die neue Art des Internets auszutricksen. Dieses Internet, genannt „die Tiefe“, ist ein virtueller Raum, der dem menschlichen Gehirn vermittels technischer Tricks vorgaukelt, er sei real. Das bedeutet, dass man sich aus der Tiefe nicht einfach ausklinken kann. Man muss von seinem Computer mithilfe eines Timers zurückgeholt werden (und hoffentlich bleibt die Uhr nicht stehen). Allein den Divern gelingt es, die krude 3D-Simulation hinter der sensorischen Illusion zu erkennen, sich zu lösen und selbstständig auszuklinken. Das verleiht ihnen natürlich enorme Vorteile, die sehr gerne von Konzernen genutzt werden, um in scheinbar uneinnehmbare virtuelle Festungen der Konkurrenz einzusteigen. (Na, kommt das irgendjemandem bekannt vor?)

Nachdem er einen „Run“ durchgezogen hat, der ihm einiges an Geld eingebracht hat, wird Leonid von einem Mann ohne Gesicht angesprochen. Dieser stellt ihm eine phänomenale Belohnung in Aussicht, wenn er sich um ein Problem kümmert, an dem schon zwei Diver gescheitert sind. Im „Labyrinth des Todes“, einer modernen Version des guten alten „Doom“ sitzt ein Mann fest, der den Weg nach draußen nicht mehr findet. Leonid soll ihn retten. Doch natürlich steckt mehr dahinter, als ein simpler Job.

Viele Leute feiern Lukianenkos Roman als großen Cyberspace-Roman. Vergleiche mit „Otherland“ von Tad Williams und „Matrix“ von den Wachowski-Brüdern werden gezogen. Beides ist in meinen Augen zu hoch gegriffen, denn auch wenn der Roman zweifellos unterhaltsam ist, fehlt ihm die epische Komplexität von „Otherland“ ebenso wie die von „Matrix“. Im Grunde basiert die ganze Handlung auf einer einzigen guten Idee, nämlich der, die das Konzept der Tiefe als sensorischen Trick bezeichnet, der dem Gehirn nach dem Konsum eines ganz besonderen psychedelischen Intro-Clips vorgaukelt, ein Pixelmonster wäre ein echtes.

Ansonsten bleibt Lukianenko sehr seiner Zeit verhaftet. Der Roman wurde Mitte der 1990er geschrieben (was man als Computerkenner mit wiederkehrendem Schmunzeln bemerkt) und zeigt dies etwa darin, dass „Doom“ und „Mortal Kombat“ gefeiert werden, dass Apple als IBM heillos unterlegen dargestellt wird und dass ein Rechner mit 200 MB Arbeitsspeicher als technischer Luxus gilt. Hier wird also die normale Welt (Petersburg Ende der 1990er) dargestellt – mit der einzigen Variation, dass es nun die Tiefe gibt, eine Art „Shadowrun“-Matrix gepaart mit russischem Hang zur schmutzigen Seite der Wirklichkeit.

Damit mich niemand falsch versteht: Der Roman macht Spaß! Lukianenko entwirft mit Leonid einen sympathischen Loser, der alleine in seiner heruntergekommenen Bude vor seinem Computermonitor hängt und von einem Leben in Reichtum träumt. Auch der beiläufige Plauderton, in dem die Geschichte erzählt wird, passt zu diesem Slacker von einem Helden. Amerikanische Dramatik ist Lukianenko fremd, russische Tristesse und ein wenig Pathos dagegen keinesfalls. Schön – und ebenfalls typisch russisch – ist die nüchterne Sicht auf das noch relativ neue Wunder der Tiefe. Natürlich wird sie vor allem für anonymen Sex und den schnellen Gewalt-Kick missbraucht. Natürlich will jeder Newbie aussehen wie ein Hollywood-Star. Natürlich nerven im Alltag die veraltete Hardware und die zu langsamen Telefonleitungen.

Fazit: „Labyrinth der Spiegel“ liest sich wie Lukianenkos Antwort auf amerikanische Cyberpunk-Romane. Alles ist ein wenig dreckiger, schrottiger und bodenständiger. Mit einem netten Loser-Typen und einem erfreulich ungewöhnlichen Konzept des virtuellen Raums nimmt der Autor den Leser mit auf ein digitales Abenteuer, das futuristische Anklänge hat, im Kern aber sehr in seiner Entstehungszeit verhaftet ist (weswegen es heute, fünfzehn Jahre später, einen eigentümlichen Retro-Charme ausstrahlt). Ein nostalgischer Lesegenuss für alle, die in den Neunzigern selbst die meiste Zeit vor dem PC hockten.


Labyrinth der Spiegel
Science-Fiction-Roman
Sergej Lukianenko
Heyne 2010
ISBN: 978-3453527751
608 S., Paperback, deutsch
Preis: EUR 15,00

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