Justitian

"Justitian: Die gerechte Faust": ein wahrer Moloch von einer Stadt in der postapokalyptischen Welt von "Degenesis". Es ist die Stadt der schlapphuttragenden und hammerschwingenden Richter. "Justitian" ist das von vielen Fans lange erwartete erste Quellenbuch für "Degenesis" und nimmt sich der Stadt und seinen Bewohnern auf 204 Seiten an.

von amel

 

"Degenesis" ist ein Phänomen auf dem deutschen Rollenspielmarkt. Der Verlag Sighpress ist trotz der professionell produzierten Bücher ein Hobbyverlag, dafür werden die wenigen Bücher aber auch mit der nötigen Begeisterung gefertigt. Vor diversen Jahren entstand "Degenesis" im Internet und wurde in Form von pdf-Dateien den Fans angeboten. Lange später entstand das Grundregelwerk, wie es heute vorliegt. Der immer nahe Kontakt zu den Fans hat sich bezahlt gemacht, denn die erste Auflage war in einer Zeit ausverkauft, von der viele andere Rollenspielverlage nur träumen können. Welchen Einfluss die pdf-Datei mit den kompletten, vollständig gelayouteten Grundregeln hat, die es auf der Homepage des Verlages zum Download gibt, mag man nur erahnen – doch wahrscheinlich war sie für die Verkäufe eher förderlich als nachteilig.

Die Begeisterung und Fan-Nähe der Macher hat auch nach dem Erfolg der Grundregeln angehalten, so wurde etwa der Spielleiterschirm, der sich nach Auslieferung als zu dünn und schwabbelig herausstellte (schlechte Beratung der Druckerei), neu gedruckt und kostenlos an die Besteller versandt – ein guter Service für die Fans und wahrscheinlich die Vernichtung jeden Gewinns für den Verlag.

Die grafische Gestaltung von "Justitian" (und "Degenesis" im Allgemeinen) ist einzigartig: Jede Seite wird individuell konzipiert und es gibt eine Menge Bilder von außergewöhnlicher Qualität. Sehr schön sind auch die beiden Karten auf den Umschlaginnenseiten: vorn Justitians Umgebung (auch wenn die Karte ohne Legende fast nutzlos ist) und hinten von der Stadt selbst. Nur der hektische Seitenhintergrund stört, so gut er auch zu dem Bild passt, das vermittelt werden soll, denn er erschwert das Lesen erheblich.

Auch der Schreibstil ist so wohl noch nicht da gewesen: Auf neutrale Darstellung wird weitestgehend verzichtet; selbst die Beschreibung einer Häuserzeile ist gefärbt von der Meinung irgendeines Bewohners der Stadt. Kurze Stakkatosätze wechseln sich mit metapherüberladenen Satzkonstrukten ab und vermitteln ein sehr emotionales Bild der Welt. Vignetten verstärken den Eindruck der Subjektivität. Ab und zu nervt die Erzählweise zwar etwas und driftet sogar ins Lächerliche ab, doch selten genug, um den Gesamteindruck nicht zu zerstören.

Das erste Kapitel mit dem Namen "Protektorat" beschreibt die Umgebung von "Justitian", die Geschichte und die Regierung. Die Richter haben hier das Sagen, gliedern immer neue Orte der Umgebung in das Protektorat ein und sorgen dafür, dass die strengen Gesetze eingehalten werden. Die 24 größeren Siedlungen der Umgebung werden mit einem kurzen Abschnitt bedacht, es gibt eine Zeitleiste, ein paar Gesetze und allgemeine Beschreibungen.

Der Stadt mit ihren verschiedenen Stadtvierteln wird im zweiten Kapitel beschrieben. Hier finden wir Informationen über viele wichtige Orte und ihre Bedeutung für die Stadt – und damit auch über Lebensbedingungen, Gesetze und Organisation.

Das dritte Kapitel widmet sich den Leuten der Stadt. Es ist ein langes Kapitel mit vielen Leuten: 100 Seiten, 100 Personen, geordnet nach Kulten und Gruppierungen innerhalb der Kulte. Hier wird der eigentliche Kern von "Justitian" beschrieben und der bisherige Eindruck vervollständigt. Ein großartiges Kapitel: Der subjektive Schreibstil passt wunderbar hierher und durch die Einführungsabsätze zu jeder Gruppe wird ein sehr vollständiges Bild gezeichnet. Es ist das einzige Kapitel, das übersichtlich genug geordnet ist, um eine einmal gelesene Information anschließend auch wiederzufinden.

Das letzte Kapitel ist kurz und ausschließlich für den Spielleiter. Viele kurze Abschnitte auf ungefähr einem Duzend Seiten beschreiben Abenteuerideen und Entwicklungen in der Stadt. Will man dem Metaplot von "Degenesis" folgen, ist man hier an der richtigen Adresse – viele der Ideen sind aber auch losgelöst davon einzusetzen.

Zum Rollenspielhobby gehört nicht nur das Spielen selbst, sondern auch die Vorbereitungen, das Treffen mit Freunden außerhalb der Spielrunden, um über das aktuelle Spiel oder die letzte coole Neuerscheinung zu sprechen, und auch das Lesen der Bücher muss zum Hobby dazugezählt werden. Im letzten Bereich punktet "Justitian" (und "Degenesis" im Allgemeinen) maximal. Man taucht bei der Lektüre tief in eine fremde Welt ein, wird mit Details und Ideen geradezu überschüttet.

Die Unterstützung am Spieltisch ist dafür leider eine mittlere Katastrophe. Auflistungen werden unübersichtlich in Fließtext gepackt, die Überschriften sagen nichts über den Inhalt des folgenden Abschnitts aus und viele Informationen muss sich der Spielleiter aus mehreren kleinen Infobrocken, die über verschiedene Kapitel verteilt sind, zusammensuchen. "Justitian" ist ein Buch, das man mit großer Begeisterung liest und sich von der Stimmung gefangen nehmen lässt, nur um dann am Spieltisch stundenlang diese spezielle Beschreibung zu suchen, die man letzte Woche entdeckt hatte (eigentlich wollte ich hier ein Beispiel bringen, das mir aufgefallen war, aber ich habe es – das ist kein Witz – nicht wiedergefunden). Auf Dauer stelle ich es mir unmöglich vor, die komplexe Geschichte von "Degenesis" am Spieltisch umzusetzen, es sei denn man lernt die Bücher auswendig – denn mal schnell einen benötigten Infobrocken wiederzufinden, dürfte in vielen Fällen unmöglich sein. Es sei aber auch erwähnt, dass sich das nicht durch das gesamte Buch zieht und Kapitel drei durchaus gut und übersichtlich strukturiert ist.

Fazit: Bei der Gratwanderung zwischen Lesespaß und Spielbarkeit wurde für "Degenesis" eine klare Entscheidung getroffen. Es gibt sicher bessere, nicht so extreme Wege, doch am Ende zählt nur, ob das Buch den Leser begeistern kann, und da stehen die Chancen für "Justitian" nicht schlecht. Wer sich davon einen Eindruck machen will, findet ca. 100 Seiten des Buches (die ersten beiden Kapitel und die "Spitaler" aus dem NSC-Kapitel) auf der Homepage (www.degenesis.de) zu Download.


Justitian
Quellenbuch
Christian Günther, Marko Djurdjevic, Alexander Malik, Bernhard Diller
Sighpress 2006
ISBN: n.a.
204 S., Hardcover, deutsch
Preis: EUR 34,95

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