Invictus

„Invictus“ ist das dritte Quellbuch für „Vampire: The Requiem“, das sich mit den Bünden, in denen sich die Kinder der Nacht organisiert haben, beschäftigt. Hier soll also der älteste, mächtigste und traditionsreichste Bund über die spärlichen Informationen im Grundbuch hinaus beleuchtet werden und zwar auf insgesamt 230 Seiten. Was bietet dieses Quellbuch nun seinem Käufer, sei er nun für neue, tief gehende Hintergrundinformationen oder für spieltechnisch interessante Regeln zu begeistern?

von Nicolas Hohmann

 

Bevor ich mich mit dem Inhalt des Buches und damit dem eigentlich Wichtigen beschäftige, möchte ich noch ein paar Worte zum Äußeren von „Invictus“ verlieren. Es kommt wie alle Bücher aus dem Hause White Wolf in einem festen Einband daher, das Papier ist dick und die Verarbeitung ist von überlegener Qualität. Die schwarz-weißen Abbildungen im Inneren wissen die Stimmung des Textes zu verstärken und sind fast alle sehr gut gezeichnet. Paradoxerweise ist die einzige Abbildung, die mir nicht so gefallen wollte, jene auf dem Cover. Mittlerweile sind die Bücher von den Großen des Rollenspielmarktes so perfekt geworden, dass sich nur selten am Layout mäkeln lässt, also keine speziellen Bonuspunkte für schöne Präsentation, denn das, was wirklich interessiert, ist der Inhalt. Und der ist, das will ich hier schon mal verraten, durchwachsen – es gibt sehr schöne Passagen und einige sehr unerfreuliche.

Den Anfang macht eine Kurzgeschichte mit dem Titel „Florid“. Meistens denke ich mir bei den Geschichten, die man in Rollenspielbüchern findet: „Na toll, wieder ein Drittklassiger, der sich hier auslassen will.“ Und mit diesem Vorurteil mache ich mich ans Lesen, um nach zehn Seiten völlig in die Welt von „Vampire: The Requiem“ abgetaucht zu sein, in richtiger Stimmung, um mich jetzt näher mit diesem alten Bund voller unterschwelliger Etiquette, Regeln, ultrakonservativer Ahnen und Intrigen zu beschäftigen. Kurz: Die Geschichte erfüllt ihren Zweck perfekt und ist sogar schön zu lesen.

Nun wende ich mich dem obligatorischen einleitenden Kapitel zu, in dem einem erklärt wird, wie man dieses Buch zu benutzen hat. Fokus liegt vor allem auf den Begriffen Thema (Theme) und Stimmung (Mood) einer invictuszentrierten Chronik. Beide Begriffe sind zwar im Hinterkopf zu behalten, wenn man eine Chronik schreibt, doch finde ich sie nicht so fassbar und ein- bis zweiseitig definierbar, wie sie in den neuen WoD-Büchern dargestellt werden. Dann wird – und diesen kurzen Abschnitt finde ich gut – auf die feudale Bundesstruktur der Invictus eingegangen und wie diese in der Geschichte und in heutigen Nächten eingebracht werden kann. Es folgt ein Lexikon mit bundesspezifischen Begriffen, die genauso öde wie nutzlos sind.

„A History of the Invictus“ umfasst Geschichtliches aus dem Bund. Wirklich nett, dass es sich dabei nur um eine Geschichte handelt, denn wie im Grundregelwerk schon angemerkt und hier nochmals ausgeführt, ist die Geschichtsschreibung der Vampire aufgrund falscher Erinnerungen durch den Torpor oder Jahrhunderte umspannende Intrigen nicht unbedingt mit der Wahrheit kongruent. Dieses Kapitel beginnt recht viel versprechend mit einigen Legenden und Mythen aus den Jahren 0 bis 1000 AD, welche die Mitglieder der Invictus für wahr halten, in jeweils unterschiedlichen Versionen, sowie der Geschichte um den Kaiser der Invictus, an den sich heute niemand mehr erinnern kann. Man weiß nur, dass es ihn gegeben hat.

Anschließend enttäuscht das Kapitel maßlos, denn es ist nur zehn Seiten lang, der Großteil befasst sich eben mit der Geschichte in den Jahren von Rom bis zum Mittelalter. Auf die Renaissance, den Barock und die Industrialisierung entfallen zwei Seiten, auf die Entdeckung der neuen Welt eine und auf die Moderne eine halbe. Ich hatte gerade bei diesem Bund auf eine umfangreichere Geschichtsschreibung gehofft und eigentlich auch damit gerechnet, da ja oft auf die Tradition und die Geschichte hingewiesen wird. Vor allen Dingen sind viele Abschnitte sehr pauschal gehalten und nicht wirklich spezifisch für die Invictus.

Es folgt ein Kernstück des Buches, denn das Kapitel „Unlife in the Invictus“ befasst sich mit den Regeln und Gebräuchen sowie der Etiquette innerhalb des Bundes. Wie spreche ich einen anderen Vampir an? Wie in welcher Situation? Wie, wenn ich Demut, Zorn oder Amüsement innerhalb der strengen sozialen Normen einem anderen Vampir gegenüber äußern möchte? Die Antworten findet man hier, und man erhält einen sehr guten Eindruck der Kriege auf gesellschaftlichem Parkett, die sich die Invictus zwecks Ruhm, Macht und Geld liefern. Es werden die unterschiedlichsten Titel, Ränge und Ämter erklärt und in Beziehung zueinander gebracht. Dies ist wichtig, denn ein Fundament dieses Bundes ist der Respekt, den sich die Mitglieder untereinander zugestehen.

Ein weiteres Fundament ist die Schirmherrschaft: Ein mächtiger Vampir fungiert als Patron für weniger mächtige Vampire – seine Klienten. Die Klienten erfüllen Dienste für ihren Patron, dafür genießen sie seinen Schutz. Das Einlösen von zugesagten Versprechen ist für die Vampire dieses Bundes sehr wichtig, denn ihre Ehre und ihr Ansehen in der Domäne hängen davon ab, ob sie Wort halten. Des Weiteren werden die zyklischen Dynastien erläutert: Vampire, die einander bewachen, während der Partner in Torpor liegt, die Geschäfte weiterführen und Ämter weiter bekleiden. Dies führt zu einer sehr innigen Beziehung zwischen den Vampiren, die einige der Unannehmlichkeiten des Torpors lindert.  Das Kapitel beschäftigt sich auch mit Strategien, Macht zu bekommen oder zu bewahren, Domänenpolitik zu betreiben und was ein Innerer Zirkel tut, wenn er nicht die Stadt kontrolliert.

„Invictus & The Danse Macabre“ führt das vorangegangene Kapitel weiter. Zunächst geht es darum, wie man überhaupt ein Mitglied der Invictus wird. Häufig beginnt die Laufbahn als herausragender Mensch, führt über mehrere Jahre bis Jahrzehnte als Kind unter der Aufsicht des Erzeugers und kulminiert in einem Ritual der Freilassung (Manumission), womit die Karriere als vom Erzeuger unabhängiger Neonat beginnt. Es ist jedoch auch möglich, als Vampir in den Bund einzutreten.

Anschließend werden die Gilden vorgestellt. Es ist als Vampir möglich, sich von einem Meister ausbilden zu lassen und dann einen offiziellen Abschluss in einem bestimmten Wissensgebiet, beispielsweise Manipulation anderer oder Herdenpflege, zu machen. Ein solcher Abschluss ist sehr prestigeträchtig und Experten eines Fachs werden gerne konsultiert. Orden sind militärisch organisierte Gilden, deren Mitglieder als Ritter abschließen, um dann als einziges Ziel den Schutz des Bundes wahrzunehmen. Exemplarisch werden zwei Gilden näher beschrieben.

Ein weiterer Abschnitt beschäftigt sich detaillierter als im Grundregelwerk mit der allgemeinen Meinung, die der Bund anderen Bünden, Übernatürlichen und Hexenjägern gegenüber pflegt. Dann findet man noch allgemeine Geschäftspraktiken der Invictus, anwendbar in der Welt der Wirtschaft und Politik der Sterblichen. Diese sind jedoch sehr banal, ich glaube, jeder Spieler oder Spielleiter wäre in der Lage, sich das schnell selbst zu überlegen.

Nun wird es für jene, die gerne neue Regeln, Disziplinen und Fraktionen sehen, interessant, denn die nächsten zwei Kapitel bieten genug harte Regeln speziell für die Invictus. Zunächst werden Untergruppen innerhalb der Invictus vorgestellt, die durch ein politisches Ziel oder gemeinsame Interessen geeint sind. Dies sind:

  • Die Cherubim: Kunstliebhaber und Mäzene, die sterbliche und vampirische Künstler fördern.
  • Das noble Gefolge der Artemis: ein exklusiver Jagdverein.
  • Octopus: Vampire, die sich als Männer des Volkes ausgeben und lokalpolitisch Meinungen manipulieren.
  • Der Ehrbare Orden des Dornenkranzes: ein sehr ehrenvoller Ritterorden, der sich von der Blutlinie der Spina ableitet.
  • Die Nachteulen: Spione, die sich vor allem auf Informationen über geheime Künste anderer Bünde spezialisiert haben.

Vor allen Dingen an den Octopus habe ich einiges auszusetzen: Sie passen vom Auftreten her überhaupt nicht in die elitäre Gesellschaft der Invictus und sie agieren sehr offen, das geht sogar bis zu öffentliche Partys in der eigenen Zuflucht. Auch wenn sie verborgen agieren, treten sie eher bescheiden auf und häufen keine Reichtümer an. Demagogen dieses Bundes stelle ich mir anders vor.

Anschließend werden die „Hostwicks“ und die „Bulls“ vorgestellt, zwei Ghulfamilien, wobei letztere nicht invictusspezifisch ist und somit eher ins „Ghouls“-Quellbuch gehört hätte.

Die Kapitel enthalten noch sechs Blutlinien. Da ich keines der beiden „Bloodlines“-Quellbücher besitze, gefallen sie mir ganz gut und ich kann mir sogar vorstellen, sie ins Spiel einzubauen. Jedoch kann ich mir auch vorstellen, dass es mit beiden oben genannten Quellbüchern mittlerweile eine regelrechte Inflation an Blutlinien gibt und der Spielleiter hier regulierend eingreifen muss. Vorgestellt werden:

  • Annunaku: eine sehr alte Gangrel-Linie, die auf mystische Art und Weise ihr Land beeinflussen kann.
  • Kallisti: Daeva, die die Kunst, andere zu verführen und dann fallen zu lassen, Zwietracht zu sähen und Leute auszunutzen, perfektioniert haben, bis hin zu ihrer Clansdisziplin: Perfidität (Perfidy).
  • LYNX: eine neue Blutlinie aus Computerspezialisten, die sich mit Netzwerken befasst, seien es Computernetzwerke, Verkehrsnetze oder soziale Netzwerke.
  • Malocusians: Vampire, die ihre Zuflucht beeinflussen können bis sie mit ihr verschmelzen.
  • Sotoha: Eine Blutlinie aus Japan, die die Treue zum eigenen Lehnsherren für die höchste aller Pflichten hält. Mit ihrer Disziplin „Kamen“ können sie selbst dann ruhig bleiben, wenn sie in Raserei sind.
  • Spina: Eine alte, ritterliche Blutlinie, die Ehre und Höflichkeit, selbst im Kampf zu ihrem hohen Ziel erklärt hat.

Eine weitere Besonderheit der Invictus sind die Bluteide, die sie schwören können. Bluteide sind regeltechnisch Hingaben (Devotions), die meistens nur ein oder zwei Vampiren in einer Stadt bekannt sind, diese werden Notare genannt. Die einfachen Eide werden nur auf die Ehre geschworen, die komplizierten beinhalten Blutmagie und sind daher gut geeignet, jemanden auch wirklich an den Eid zu binden.

Alles in allem ein mittelmäßiges Kapitel. Einige gute Ideen und viel Durchschnitt. Malocusians und Annunaku haben ein sehr ähnliches Konzept und die LYNX hätten meiner Meinung nach mehr in die Karthanische Bewegung (Carthian Movement) gepasst.

Der Anhang enthält noch ein gutes Dutzend universell einsetzbarer NSCs aus den Reihen der Invictus. An sich eine schöne Sache, wenn man mal einen zur Hand braucht oder eine Inspiration benötigt. Was mich allerdings stört, ist, dass sie Hälfte keine richtigen Werte hat sondern nur ein oder zwei Würfelpools, da sie nicht als Kämpfer gedacht sind. Ich hasse es, mir selbst Werte zu erschaffen, denn ich halte dies für mühselige Arbeit, allerdings brauche ich Werte, denn Handlungen von Spielern sind oft unvorhersehbar. Manchmal steckt man dann mitten in einem Kampf, ohne es vorhergesehen zu haben. Wenn schon vorgefertigte NSCs, dann bitte komplett!

Fazit: Das Buch ist kein Muss, mit dem Grundregelwerk hat man schon alle essenziellen Informationen zur Hand, um das Wesen des Bundes zu begreifen. Allerdings braucht man das Buch auch keinesfalls zu meiden, denn einige Konzepte wurden schön weitergesponnen und wirken sicherlich bereichernd auf das Spiel.

Insbesondere möchte ich hier die Bluteide, die Etikette-Regeln und die zyklischen Dynastien hervorheben. Leider bekommt man nach Lektüre des Quellenbuches, das unter den großen Kapiteln sehr viele Details anreißt, die teilweise nichts miteinander zu tun haben, immer noch kein völlig klares Bild vom Bund. Man erhält stattdessen sehr viele Ideen präsentiert und die Gesellschaft „Invictus“ wird differenzierter, denn nun gibt es Gilden, Ritterorden, Gruppierungen und Blutlinien. Allerdings sollte man nicht den Fehler machen, die eigene Chronik mit allem, was hier drin steht, zu überfrachten.

Im Gegenzug zur Informationsdichte mancher Passagen sind einige Texte leider sehr banal: In meinen Augen bedarf es keiner langen Ausführungen darüber, dass sich die Invictus mit Investitionen und menschlicher Politik beschäftigen. Gerade durch diese Langatmigkeit an einigen Stellen und den vielen verschiedenen Punkten, die unter der großen Überschrift „Invictus“ Platz finden und angerissen werden, ist das Buch mitunter anstrengend zu lesen. Andere Quellenbücher haben ihren Inhalt besser im Griff, etwa „New Orleans – City of the Damned“.

Alles in allem bekommt man in „Invictus“ eine Menge Material zur Verfügung gestellt, um Mitgliedern der Invictus Farbe zu verleihen. Was davon in der eigenen Chronik verwendet wird, muss jeder für sich entscheiden.


Invictus
Quellenbuch
Blackwelder, Chart, Fawkes, Shomshack & Hindmarch
White Wolf 2005
ISBN: 1588462595
231 S., Hardcover, englisch
Preis: $ 31.95

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