Harte Ziele

Die Schatten sind nicht nur in den Schluchten der Hochhäuser dunkel. Auch in den Seelen der Metamenschen liegen Abgründe; und die Nächte auf den Inseln der Karibischen Liga sind finster. Wie gehört das zusammen? Nun ... hier wie dort ist Mord ein Geschäft. Und das kann sich sehr lohnen. Wenn man selbst überlebt.

von Adaon

Achtung: In der vorliegenden Rezension geht es um ein Quellenbuch. Um darüber sinnvoll schreiben zu können, sind auch Spoiler notwendig; ich werde jedoch nicht zu sehr ins Detail gehen.

„Harte Ziele“ setzt die Geschichte der Welt im Jahr 2077 weiter fort. Das Positive? Es kam (bisher) nicht zur globalen KFS-Krise durch die Ereignisse in Boston, also Panik, Hexenjagden und so weiter. Die Bevölkerung wird erfolgreich im Dunkeln gehalten, die Tarngeschichte eines terroristischen Anschlages mit Biowaffen hält dicht, Boston ist so sicher wie nur möglich abgeriegelt. Kaum etwas geht hinein und nichts kommt hinaus. Also bisher ein Sieg für die Konzerne und die globale Sicherheit!

Dennoch brodelt es natürlich hinter der Fassade. Manche Konzerne haben die Suche nach einem Heilmittel aufgegeben und/oder lassen die Konkurrenz die Arbeit machen, und natürlich versuchen sie gleichzeitig jeden Hinweis, der auf eine eigene Beteiligung verweisen könnte, verschwinden zu lassen.

„Harte Ziele“ ist, wie immer, in Kapitel unterteilt, die von Kurzgeschichten, passend zum jeweiligen Thema verfasst, eingeleitet werden. Im ersten Abschnitt berichtet ein langjähriger Attentäter von seinen aktuellen Erfahrungen. Durchgeführte Aufträge, die Bedingungen (lies: Konzernpolitik), die dazu führten, und vor allem KFS werden beleuchtet, da es gegen Fragmentierte viele Aufträge gibt. Doch auch die Lage in Boston, „klassische“ Konzernauseinandersetzungen, die „guten alten“ Schwierigkeiten, die finstere Organisationen so machen, und einiges an Ärger in der Karibischen Liga werden erwähnt. Das Gros der Aufträge für permanente Problemlösung stammt jedoch aus unerwarteter Richtung: Die Megakonzern-Revision steht an, und es gilt, den AA-Status (und damit die Exterritorialität) zu sichern, wenn der Konzerngerichtshof (lies: Die Großen Zehn) bestimmen, wer oder was in Zukunft welches Rating tragen darf. Dass dabei manche Konkurrenz durch Fusionen und Aufkäufe schon größer als einer der Großen Zehn geworden ist, wird vermutlich nicht gerade mit Wohlwollen aufgenommen werden. Doch einige wirklich harte Überraschungen, die in der Welt der Schatten für enorme Veränderungen sorgen könnten, werden erst am Schluss offengelegt.

Im zweiten Abschnitt wird über die Möglichkeiten gesprochen, Aufträge zum Töten zu finden – und Aufträge für Bodyguards. Denn die Fähigkeiten, die man braucht, um ein Leben zu beenden, können auch eingesetzt werden, um eines zu erhalten. Einige interessante Beispielaufträge in beide Richtungen, von nahezu unmöglich bis (vielleicht) einfach, werden als Aufhänger gleich mitgeliefert. Im dritten Teil – „Killer, Retter, Jäger“ – werden einige der besten und/oder bekanntesten Vertreter der im Titel genannten Berufsgruppen vorgestellt: Auftragsmörder, Leibwächter und Kopfgeldjäger, denen man besser nicht begegnen sollte, wenn man auf der falschen Seite steht.

Im nächsten Teil geht es dann um Havanna auf Kuba und die Karibische Liga. Die Geschichte, viel aktuelle politische Lage und eine Menge Gebietsbeschreibungen mit massenhaft Details (derzeitige Sportereignisse, die Zusammensetzung der Marine, Orte für Zigarrenproduktion und vieles mehr) und natürlich Informationen zu jeder Menge NSC der Gegend werden präsentiert. Da ist vom Schuhputzer im Touristenviertel, über örtliche Konzernangestellte, den Taxifahrer, den Botschafter, verschiedene Mitglieder der Mafia, bis zum Präsidenten gefühlt jede mögliche Begegnung für die Charaktere abgedeckt. Im weiteren Text werden andere Gebiete Kubas und der Karibischen Liga sowie das organisierte Verbrechen in der Gegend vorgestellt. Gerade die Zobop, Kriminelle Voodoo-Anhänger, die unter anderem „Zombies“ erschaffen, sind recht ungewöhnlich. Die magischen Möglichkeiten, die sich hier ergeben, werden ausführlich beschrieben und regeltechnisch behandelt. Zwei neue Traditionen, neue Loa und Schutzgeister kommen vor, ebenso wie weitere Erwachte Spezies. (In diesem Kapitel gibt es auch den einzigen offensichtlichen Fehler des Buches; unter dem Eintrag für den Chickcharney auf Seite 127 finden sich keine Kräfte, obwohl dieser ein Magieattribut hat. Anhand der Beschreibung des Textes ist davon auszugehen, dass dieser Critter „Verwirrung“ und/oder „Unfall“ verursachen kann.) Schließlich finden sich noch eine Handvoll Lebensmodule für eine Erschaffung nach „Schattenläufer“ und Lebensstiloptionen für Charaktere aus der Karibischen Liga.

Der letzte Teil schließlich entfernt sich wieder von Havanna und geht ganz allgemein zunächst auf den „Assassinen“ ein. Werdegang, Lebensstil, Vorraussetzungen, Möglichkeiten des Mordens werden näher beschrieben. Danach kommen Ausrüstung (Waffen, Drohnen, Gifte etc.), Cyberware, Zauber, Adeptenkräfte, Vor- und Nachteile, und die Möglichkeit, Waffen umzubauen, um sie bestimmten Bedingungen (oder dem persönlichen Stil) besser anpassen zu können. Ein paar Connections und Lebensmodule sowie einige Abenteuervorschläge runden das letzte Kapitel ab. Der Regelteil umfasst im Ganzen nicht viel, doch es ist von allem, was ein Assassine brauchen könnte, etwas da.

Meine eigene Meinung zu diesem Buch war zu Beginn kritisch. Auftragsmord? Gehört das in ein Rollenspielsetting, auch ein so düsteres wie „Shadowrun“? Doch die Antwort wurde während des Lesens rasch offensichtlich. Die Charaktere sind nun einmal Berufsverbrecher, die für Bezahlung arbeiten. Dies ist nicht einfach die „dunkle Seite“ von „Shadowrun“ – sie gehört fest dazu, und ein normaler Konzernbürger wird einen Runner erst einmal als genau das betrachten: einen bezahlten Mörder. Dieser Denkanstoß wird mir als Spielleiter helfen, die Welt – bzw. die Reaktionen der NSC darin – um die Charaktere herum glaubwürdiger darstellen zu können, ob diese nun tatsächlich Mordaufträge annehmen wollen oder nicht. Und für die realistisch wirkende Planung, Durchführung und Bekämpfung von Anschlägen im Spiel liefert „Harte Ziele“ jede Menge Material.

Fazit: Eine interessante und auf den ersten Blick nicht zusammengehörende Mischung wird dem „Shadowrun“-Spieler hier geboten. Der erste Teil des Buches bietet Hintergründe und Informationen über Tod und (Auftrags)Mord in der ganzen Welt (und was dazu führt), der zweite Teil geht ein wenig auf die Karibische Liga, deutlich mehr auf Kuba und sehr ausführlich auf Havanna ein. Der dritte Teil schließlich beschreibt so ziemlich alles, was ein Attentäter im Spiel beachten oder brauchen könnte. Benötigt man als Spieler dieses Buch? Wie immer lautet die Antwort: Es kommt darauf an. Der auch auf der Rückseite erwähnte Regelteil behandelt ausschließlich Auftragsmord und ist recht kurz; das Buch ist nicht umsonst im grünen Farbton eines Quellenbuches gehalten. Was dieses Buch bietet, ist Hintergrund über Auftragsmord in der sechsten Welt, sowie Informationen über Havanna – und das tut es wirklich gründlich und ausführlich. Eine gelungene Spielwelt-Erweiterung ist es also allemal.


Harte Ziele
Quellenbuch
Kevin Czarnecki, Jason M. Hardy, Alexander Kadar, u.a.
Pegasus Spiele 2016
ISBN: 978-3-95789-051-1
196 S., Hardcover, Deutsch
Preis: EUR 19,95

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