Ghost Stories

Die Wahrheit lauert irgendwo da draußen... und der Schrecken... mit klammen Fingern leise an der Fassade kratzend, die wir in unserer Ignoranz als Realität betrachten. Doch es gibt Orte, an denen ist der Schleier zwischen unserer Sphäre der scheinbaren Sicherheit und einer dunkleren Wirklichkeit dünn: unheimliche Häuser, dem Verfall anheim gegeben, einsame Minensiedlungen irgendwo im Nirgendwo, ein böser, alter Baum inmitten einer Parklandschaft oder vielleicht auch einfach nur unser Wohnzimmer... „Ghost Stories“ bietet einen Einstieg in diese Welt der Dunkelheit.

von Bernd Perplies

„Ghost Stories“ ist der erste Quellenband des neuen „World of Darkness“-Systems von White Wolf und stellt damit bereits ein interessantes Novum dar. Während früher die Produktlinien wie „Vampire“, „Werewolf“ und dergleichen in sich relativ geschlossen waren – samt Grundregelwerk für das jeweilige Setting – gibt es heute diese allgemeine Produktreihe namens „World of Darkness“, die einerseits als Rahmen dient, in den dann die jeweiligen Settings („Vampire“, „Werewolf“) eingefügt werden, die aber andererseits auch als völlig eigenständiges Rollenspiel funktioniert, das auf subtilen Schrecken baut und eine deutliche Mystery-Atmosphäre erzeugt. Geister, Zombies und übernatürliche Phänomene jedweden Kulturkreises stellen hier die Herausforderung für die Spieler dar, deren Charaktere am Besten zunächst völlig normale Menschen sind, die sukzessiv in die Welt der Dunkelheit gezogen werden. In gewisser Weise stellt „World of Darkness“ also das Präludium vor der endgültigen Verwandlung der Helden in Geschöpfe der Nacht dar.

Der Abenteuerband „Ghost Stories“ bietet nun verschiedene Wege in die „andere“ Welt. In fünf Geschichten haben Spielercharaktere unheimliche Begegnungen der untoten Art. Allen Abenteuern gemein ist dabei der Schwerpunkt auf Atmosphäre, auf Grusel und die Ergründung des Geheimnisses, das den seltsamen Dinge, die sich ereignen, zugrunde liegt. Entsprechend ist es sinnvoll – wenngleich nicht zwingend notwendig – die Abenteuer ganz zu Beginn einer Chronik zu spielen, wenn die Helden noch keine abgebrühten Geisterjäger sind oder gar selbst Monster, welcher Art auch immer. Auch Kämpfernaturen sind etwas fehl am Platze, denn eigentlich wird keine direkte physische Konfrontation mit den verlorenen Seelen gesucht (abgesehen davon... wie will man eine „Erscheinung“ besiegen?); stattdessen gilt es zumeist, den „Bann“ aufzuheben, der auf einem Ort oder einer toten Person lastet und sie im Diesseits hält. Verstehen ist der Schlüssel zum Erfolg. Hierfür sind Recherchen und mitunter Einfallsreichtum gefragt.

Einfallsreichtum ist auch vom Spielleiter gefragt, denn die Abenteuer sind überwiegend sehr modular aufgebaut. Es gibt keine festgelegte Dramaturgie, sondern nur eine grobe Entwicklung der Ereignisse, eine Reihe von Plotpoints, die für den Fortgang der Geschichte wichtig sind. Schauplätze wie auch NSC werden indes meist recht ausführlich beschrieben. Doch am Ende ist dem erzählerischen Geschick, der Fähigkeit des Spielleiters, aus den Einzelteilen einen funktionierenden Spannungsbogen zu erzeugen, geschuldet, ob die Geschichte funktioniert oder nicht. Ein anspruchsvoller Einstieg, keine Frage, und meines Erachtens nicht unbedingt für Rollenspiel-Anfänger geeignet. (Gilt im Übrigen auch für Spieler, die ihre Charaktere erheblich naiver spielen müssen, als sie es selbst sind, die immerhin wissen, dass sie gerade eine Schauermär erleben.)

Dessen ungeachtet ist „Ghost Stories“ eine wirklich wundervolle Abenteuersammlung. Die einleitende Kurzgeschichte, die den Leser in Stimmung bringen soll, mag vielleicht etwas irritieren, aber sobald man sich durch die daran anschließenden 13 Seiten mit Regelzusammenfassungen und Anregungen zur Einbindung von Geistern in die eigene Chronik (teilweise übernommen aus dem Grundregelwerk) geblättert hat und in die fünf jeweils ca. 20 Seiten langen Abenteuer einliest, wird man regelrecht gefangen genommen von den stimmungsvollen Szenarien. Keine der Stories ist an und für sich weltbewegend einfallsreich, aber die Art, wie die Autoren diese spezielle Schauerstimmung hervorrufen, regt direkt die Fantasie an und macht es einem als Spielleiter fast unmöglich, nicht darüber nachzudenken, wie hübsch man diese Geschichten ausschmücken und entwickeln könnte – die richtige Spielergruppe vorausgesetzt.

„Dust to Dust“ verschlägt die Charaktere in die Geisterstadt Ford Assumption, die einst eine prosperierende Silbermine besaß, dann aber nach und nach verfiel und schließlich in einem Amoklauf des damaligen Sheriffs ihr blutiges Ende fand. Doch der Geist des Ortes fand keine Ruhe und es ist nun in der Helden eigenem Interesse – sie sind dort gestrandet –, für Abhilfe zu sorgen – oder ihm zumindest lebend zu entkommen. Das Setting dieses einsamen Fleckchens vergangener Zivilisation irgendwo im amerikanischen Westen weckt sofort Assoziationen und man fühlt sich lebhaft in die vom Staub umwehte Szenerie aus verfallenden Holzhäusern und im Wind schlagenden Holztüren hineinversetzt. Und nachts streichen heulende Kojoten um die Stadtgrenzen... Leider gibt es keine Umgebungskarte (überhaupt sind alle Abenteuer völlig frei von Übersichtskarten und Handouts – ein weiteres Symptom des fragmentarischen Konzepts, das alle Details dem Spielleiter überlässt).

„The Terrifying Tale of James Magnus“ führt die Spieler zu einem einsamen Anwesen in einem abgelegenen Flecken namens Hampton County in den, so wirkt es, Neu-England-Staaten. Es handelt sich hier um eine klassische „Haunted House“-Geschichte, die in ihrer Struktur so offen bleibt, dass nicht einmal ganz klar ist, welche Rollen die Helden eigentlich in ihr spielen sollen. Der Autor macht zwar Vorschläge, wie sich die Handlung entwickeln könnte (beispielsweise könnten die Helden das Haus gekauft haben), im Grunde besteht das Kapitel aber nur aus der Beschreibung des Hauses, seiner geisterhaften Bewohner und deren grausamen Spuktreibens. Mehr ein ausgefeilter „Adventure Hook“, als ein echtes Abenteuer. Und – diesmal wirklich blöd – erneut ohne Plan (des Hauses). Die Ausrede: „Die Zimmer sind eben – wie in einem Horrorfilm – da, wo sie dramaturgisch gerade gebraucht werden...“ (S. 60) scheint mir eine sehr schwache zu sein.

„No Way Out“ ist fast eine Soap-Opera (mit untotem Element). David Richardson hat sich das Leben genommen, nachdem herauskam, dass er Gelder seiner Firma veruntreut hat, um die zwei Leben (mit zwei verschiedenen Frauen), die er führte, zu finanzieren. Doch der Tote kehrt zurück, um sich an den Verursachern seines Leids zu rächen und gleichzeitig seine Familien eifersüchtig zu bewachen. Die Helden kommen vermutlich als Freunde oder Kollegen ins Spiel und müssen die Hintergründe der seltsamen Zwischenfälle ergründen, die aus Richardsons Treiben resultieren (natürlich ahnt zunächst niemand, dass ein Geist im Spiel ist), um letztlich hoffentlich die zornige Seele zu besänftigen oder mit Gewalt ins Jenseits zu bannen. Das Abenteuer hat vielleicht den stärksten interaktiven Charakter von allen, denn die Spieler werden mit einer Vielzahl an NSC aus Richardsons Umfeld konfrontiert, bevor sie das Rätsel in seiner vollen Tragweite erkennen und lösen können. Eine „Akte-X“-Folge im besten Sinne.

In „Roots and Branches“ werden die Charaktere mit dem Tod der jungen Lenore White konfrontiert, bei dem es nicht so ganz mit natürlichen Dingen zugegangen zu sein scheint, denn die tote Frau erscheint den Helden und fleht um Hilfe. Die Spuren führen in den Moth Park, der einst zum Anwesen von Thomas Moth gehörte, einem reichen Industriellen, dessen Familie um die Jahrhundertwende grausam ums Leben kam. An den Charakteren ist es, das dunkle Geheimnis, das die Toten von ihrer letzten Ruhe abhält, aufzudecken. Von der Dramaturgie her ist dieses Abenteuer, vom Autor sorgsam in drei Akte mit mehreren Szenen aufgeteilt, das am besten sturkturierte des ganzen Sammelbandes. Ohne Spieler zu sehr einzuengen, führt es den Spielleiter doch gut durch die eher moderat schaurige Handlung und eignet sich damit auch für Einsteiger.

„Holy Ghost“ schließlich bietet ein ungewöhnliches Setting: Gangland, genauer Switchtrack Alley, eine üble Gegend in einer beliebigen Großstadt. Inmitten von Goldkettchen, Baseballschlägern, Dreadlocks und Gangsta-Rap geht ein geisterhafter Rächer um und schreckt vor nichts zurück, um die Sündigen für ihre Taten zu bestrafen. Dass er dabei zunehmend jedes Maß für Recht und Unrecht verliert, scheint ihn nicht zu stören. Auch hier heißt es für die Helden, die Hintergründe zu erforschen und schließlich zu entscheiden, wie die zornige Seele (man siehe: eine Variation zu „No Way Out“) zur letzten Ruhe zu betten ist. Ein düsteres Abenteuer mit urbanem Flair.

Ein letztes Wort zu Optik: überwiegend sehr gelungen. Wie schon beim Grundregelwerk setzt der 128-seitige Hardcoverband außen und im Regelteil auf eine schaurig-schöne Collagetechnik, die mehr andeutet, als wirklich zeigt und die Atmosphäre vortrefflich unterstützt. Leider ist das Niveau der Abenteuerillustrationen nicht auf diesem Level. Tatsächlich hat jedes Kapitel seinen eigenen Stil, der von kunstvoll („The Terrifying Tale...“ und „Roots and Branches“) über Comic-Style („Dust to Dust“ und „Holy Ghost“) bis hin zur primitiven Strichzeichnung („No Way Out“) reicht. Ein weiteres Manko, das in der Buchbranche gerade breit um sich greift, ist das Fehlen eines Schutzüberzuges über die Buchdeckel, sodass unschöne Kratzer und Abrieb auch bei vorsichtigster Handhabung praktisch unvermeidlich sind.

Fazit: „Ghost Stories“, der erste Abenteuerband für die „World of Darkness“ versammelt einige wunderbar stimmungsvolle Geistergeschichten, die nicht nur erstklassige Einstiege in eine Chronik darstellen, sondern auch veritable Episoden in einer Mystery-Kampagne abgeben. Einschränkend sei allerdings gesagt, dass der überwiegend modulare und mitunter sogar fragmentarische Stil der Abenteuer noch einiges an Arbeit vom Spielleiter erfordert und nicht unbedingt für Rollenspieleinsteiger geeignet ist (aber das gilt möglicherweise für die komplette „World of Darkness“ – und das nicht nur wegen ihrer Atmosphäre).


Ghost Stories
Abenteuersammlung
White Wolf 2004
ISBN: 1-58846-483-0
128 S., Hardcover, englisch
Preis: $ 24,99

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