Feind meines Feindes (3.01D & 4.01D)

Der „Feind meines Feindes“ ist nicht unbedingt mein Freund – diese Weisheit dürfte nicht neu sein in der Welt von „Shadowrun“. Abgesehen davon, dass sich jeder in den Schatten zunächst einmal selbst der Nächsten ist, existieren noch ungezählte Gruppierungen unterschiedlichster Art, deren Agenda von der Rettung der Biosphäre des Planeten über die Rückkehr zum Kommunismus bis hin zum Support für Shadowrunner reicht.

von Frank Stein

 

Auf der Coverrückseite wird der Nutzen des Quellenbuchs wie folgt umrissen:

„‚Feind meines Feindes‘ ist eine Quellenbuch, in dem Organisationen vorgestellt werden, die in der Shadowrun-Welt nach ihren eigenen Regeln spielen. Von politischen Fraktionen und religiösen Bewegungen bis hin zu Schatzsuchern und Organhändlern bietet es eine Fülle an Informationen über all jene Gruppierungen, die sich bis jetzt erfolgreich einer genaueren Beleuchtung entzogen haben, und erweitert damit den Horizont der 6. Welt für Spieler und Spielleiter.“

Das klingt doch schon mal ganz cool, ein nicht unwichtiger Aspekt, das „Kleingedruckte“ sozusagen, wird jedoch erst im Vorwort der Spielleiterinformationen, die ab Seite 136 die letzten knapp 30 Seiten füllen, angesprochen:

„Wenn die Charaktere einer Organisation als Mitglieder angehören sollen, ist es Aufgabe des Spielleiters, die innere Funktionsweise der Gruppe, ihre wichtigsten Mitglieder, verfügbare Ressourcen und die anderen relevanten Faktoren auszuarbeiten.“

Okay, damit wären die Stärken und Schwächen des Bandes bereits abgesteckt.

Was für ein Buch ist „Feind meines Feindes“ also? Mit einem Wort: ein Sammelsurium. Ein Sammelbecken, randvoll mit Ideen für unglaublich viele Gruppierungen, die es in der 6. Welt so geben mag. Umweltaktivisten, Konzernfeinde, Moderne Anarchisten, Neo-Kommunisten und Antifaschisten sind nur ein paar Beispiele der „Politischen Agitatoren“, denen sich Kapitel 1 widmet, wobei jedem „Schlagwort“ einige konkrete Gruppen untergeordnet sind, etwa der Klabauterbund und TerraFirst! bei den Grünen oder die Edelweißpiraten bei den Antifa-Leuten.

Elitäre Organisationen wie die Vereinten Nationen oder Aegis Cognito versuchen in Kapitel 2, die Geschicke der Welt „In den Händen der Elite“ zu behalten. „Mystische Geheimnisse“ sind die Antriebsfeder für Reliktjäger und magische Gruppen (darunter die Illuminates of the New Dawn oder die Golden Acorn Society) in Kapitel 3. Als „Hüter des Glaubens“ verstehen sich die ebenso macht- wie geheimnisvolle Vigilia Evangelica und die muslimischen Bewegungen im Nahen Osten, so der New Islamic Jihad, über die in Kapitel 4 gesprochen wird. Den Abschluss bildet in Kapitel 5 die „Do-It-Yourself-Kriminalität“ der Hehler, Organhändler und Datenspione.

Insgesamt 130 Seiten lang ist dieser Informationsblock im Fließtextstil, der sich als Informationssammlung des Shadowland-Knoten unter Captain Chaos präsentiert. Alle Texte über Politik, Religion, Magie und die mannigfaltigen -ismen sind von irgendwelchen Schattencharakteren verfasst und bestehen zumeist aus essayistischen Einführungen in die Materie, gefolgt von einer Aufzählung von Vereinigungen, die damit jeweils in Verbindung gebracht werden. Wie üblich bei „Shadowrun“-Büchern“, werden ihre Vortragsdateien dabei immer wieder von mehr oder minder hilfreichen Kommentaren der Shadowland-Community ergänzt. Dadurch liest sich das Ganze angenehm locker und flockig, trockene Belehrungen über die Natur des Kommunismus oder des Islam werden geschickt eingewoben und über manche Seite wurde sogar eine Prise Humor gestreut.

Man könnte nun natürlich einwenden, dieser Stil aus der Charakterperspektive würde für eine schwammige Informationsvermittlung sorgen und es erschweren, die harten, spielrelevanten Fakten vom atmosphärischen Blabla zu trennen. Der Einwand ist nicht ganz unberechtigt, allerdings sorgt eine sehr starke Parzellierung der Informationen – soll heißen: gleich vierfach gestaffelt Unterkapitel, von denen die ersten drei Ebenen auch im umfangreichen Inhaltsverzeichnis aufgelistet sind – dafür, dass man kaum etwas verpasst, wenn man erst einmal an der richtigen Stelle in den Texte wieder eingestiegen ist.

Schwerer wiegt für mich die Frage des allgemeinen Nutzens fürs Spiel. Sicher, eine Sammlung, die wahrlich Dutzende von Organistationen jedweder Couleur vorstellt und im Spielleiterkapitel am Schluss auch konkrete Vorschläge macht, wie man diese ins Spiel einbinden könnte, ist schon eine prima Sache. Jeder Spielleiter, der das Gefühl hat, seine „Shadowrun“-Kampagne wäre noch ein wenig zu gradlinig wird hier Anregungen zuhauf finden, wie man die Spielwelt auf der Ebene zwischen den Konzernen und der Straße beleben und verkomplizieren kann. Auch, wer mal nach neuen Auftraggebern oder Gegnern sucht, kann hier aus den Vollen schöpfen.

Wer allerdings glaubt, mit diesem Buch eine Reihe spielfertiger Organisationen an der Hand zu haben, deren Aufbau und Motivationen er mit seiner Spielergruppe ausloten kann, liegt leider falsch. Details liefert das Quellenbuch, auch aus Platzgründen, relativ wenig. Vor allem Kapitel 1 bleibt mit seinen vielen Fraktionen, die nicht selten auf einer halben Seite abgehandelt werden, ausgesprochen vage, Kapitel 2 und 3 weisen – dank ihrer Konzentrierung auf einige wenige Namen – zumindest in die richtige Richtung. Aber eigentlich wären Details genau das gewesen, was ich von einem Buch über „Gruppierungen, die sich bis jetzt erfolgreich einer genaueren Beleuchtung entzogen haben“, erwartet hätte. So stellt sich die Frage, ob es nicht besser gewesen wäre, statt einer „Fülle an Informationen“, die überwiegend oberflächlich bleiben und eher der Inspiration des Spielleiters dienen als ihm eine Arbeitserleichterung zu bedeuten, das Spektrum des Angebots ein wenig einzuengen und stattdessen vielleicht ein Dutzend coole Organisationen unterschiedlichster Spielart tatsächlich ausführlich auf jeweils zehn bis fünfzehn Seiten vorzustellen.

Noch zwei Sätze zum „Handwerklichen“: Qualitativ ist bei „Feind meines Feindes“ kein großer Unterschied zu anderen „Shadowrun“-Publikationen zu bemerken. Das Cover hat einen leicht makabren Touch, das Innenlayout ist klar, aber sehr textlastig, die Innenillustrationen rangieren von einfach bis großartig, wobei im Mittel die gelungenen Zeichnungen vorherrschen. Das Lektorat ist bedauerlicherweise einmal mehr relativ bescheiden ausgefallen, wovon diverse Rechtschreibfehler und vor allem Wortdopplungen und eine ganze Reihe unvollständiger Sätze traurig Zeugnis ablegen.

Fazit: „Feind meines Feindes“ ist ein Quellenbuch, das die Gemüter scheidet. Auf der einen Seite stellt es eine wirklich umfangreiche und unwahrscheinlich breit gefächerte Sammlung an Informationen zu Gruppierungen verschiedenster Art dar, die sich irgendwo zwischen Megakonzern und Straßenecke bewegen. Auf der anderen Seite bleiben diese Informationen aber zum großen Teil rein überblicksartiger Natur und setzen noch eine Menge Arbeit in Eigenregie voraus, wenn die Organisationen mehr sein sollen, als nur Namen, die den Runnern entweder einen Job anbieten oder das Leben schwer machen.

Das Buch ist übrigens als erster Quellenband voll kompatibel zu „Shadowrun 4.01D“, was vor allem daran liegt, dass kein einziges Fitzelchen „reglementierten“ Textes darin vorkommt, sondern reine Hintergrundinformationen den Inhalt bilden.

Mit freundlicher Unterstützung von Fantasy Productions GmbH, www.fanpro.com und www.f-shop.de.


Feind meines Feindes
Quellenbuch
Rob Boyle, Christian Lonsing u. a.
Fantasy Productions 2005
ISBN: 3-89064-767-7
164 S., Softcover, deutsch
Preis: EUR 23,00

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