Edgar Allan Poe 3: Der Untergang des Hauses Usher

Es begann als rätselhafte Mär vom Mann mit dem verlorenen Gedächtnis, steigerte sich dann zur Geschichte über das Fliehen vor der unbekannten Vergangenheit. Mit Folge drei der hochwertigen Hörspielreihe von Lübbe Audio erreicht die Poe-Rezeption dieser Serie ein neues Level: Was als dramaturgisch leicht bis stark adaptierte Variante des Ursprungsmaterials begann, entwickelt sich nun zum Vexierspiel für Poekenner.

von Christian Humberg

 

Sein Herz ist eine unterbrochene Laute: Wann immer man sie berührt, klingt sie.

Nein, mit Edgar Allan Poes weltberühmter Kurzgeschichte gleichen Namens aus dem Jahr 1907 hat diese Dramatisierung nur noch oberflächliche Gemeinsamkeiten. Zwar sind die Namen und Charaktere der handelnden Personen zum Großteil identisch und auch die Atmosphäre des titelgebenden Stammsitzes der Familie Usher versteht die Inszenierung in weiten Teilen noch  angemessen zu transportieren, doch dann hören die direkten Verbindungen auch auf.

Poes Geschichte drehte sich, wie so oft in den Werken des Altmeisters, um zentrale Themen, die dem Autor besonders am Herzen lagen: Liebe und Tod, Angst und Obsession, Manie und Wahnsinn – all dies sind Zustände, die im Poeschen Verständnis nahe beieinander liegen, sich gegenseitig sogar bedingen. Wie Poes Erzähler William in der Originalgeschichte über Usher schreibt: „He was enchained by certain superstitious impressions in regard to the dwelling which he tenanted, and whence, for many years, he had never ventured forth—in regard to an influence whose supposititious force was conveyed in terms too shadowy here to be restated—an influence which some peculiarities in the mere form and substance of his family mansion, had, by dint of long sufferance, he said, obtained over his spirit—an effect which the physique of the gray walls and turrets, and of the dim tarn into which they all looked down, had, at length, brought about upon the morale of his existence.“

Dem von Klaus Jepsen gesprochenen Roderick Usher fehlen diese Aspekte jedoch leider. Natürlich ist auch bei seiner Figur die Melancholie der treibende Faktor all seines Handelns, doch stellt sich diese in der vorliegenden Inszenierung eher lethargisch dar, denn dem Wahnsinn entsprungen. Eine derartige Hypersensibilität, wie sie Poes Originalfigur aufwies und wie sie für so viele Poeschen Charaktere und Geschichten geradezu grundlegend und handlungsbestimmend ist, sucht der Kenner der Vorlage in dieser Adaption vergebens.

Wer jemals Poes „Berenice“ gelesen hat, wird sich nur schwerlich der morbiden Faszination des dortigen Ich-Erzählers entziehen können, nur wer Poes lyrisches Gedicht „Annabell Lee“ kennt (überhaupt wird Poes Lyrik sträflich unterschätzt), kann Nabokovs Roman „Lolita“ überhaupt nachvollziehen. Melchior Halla, der Autor des vorliegenden Hörspiels, wird seinen Poe sicher gelesen haben, doch hat er nur Schlagwörter und ein zugegebenermaßen recht stilsicheres Gespür für Atmosphäre aus dieser Lektüre mitgenommen.

“Madman! I tell you that she now stands without the door!”

Es fällt schwer, einem mit solcher spürbaren Liebe zum Material produzierten Werk nicht die Bestnoten zu geben, nach welchen es spürbar lechzt. Sämtliche Aspekte der Produktion sind auf gewohnt hohem Niveau. Die Hauptsprecher Ulrich Pleitgen (gäbe es einen Oscar für Hörspielsprecher, er hätte ihn verdient) und Klaus Jepsen intonieren sich im vorgegebenen Rahmen des Drehbuches deutlich die Seelen aus dem Leib, die Regie agiert dezent und sicher und der Score ist abermals sehr suggestiv und gelungen (auch wenn ich mir langsam Gedanken über die Ähnlichkeit von so manchem Thema zu den „Gabriel Burns“-Klängen mache...).

Aber entscheidend kann immer nur der eigene Anspruch sein. Und für ein Hörspiel, welches sich so deutlich auf die bekannte Erzählung Edgar Allan Poes stützt (das macht ja allein schon das Cover deutlich), liefert mir dieser Untergang des Hauses Usher einfach zu wenig vom Original-Poe. Oder anders gesagt: Bei einem so atmosphärischen Ausgangsmaterial erscheint ein, besonders gegen Ende des vorliegenden Hörspiels deutlicher, derart massiver narrativer Eingriff unnötig – in diesem Falle leider sogar allzu simplifizierend. Ohne spoilern zu wollen, muss der Rezensent doch mal klarstellen, dass Roderick Usher nicht Hannibal Lecter ist. Es geht in dieser Erzählung um Manien, um krankhafte Fixierungen auf Banalitäten, geboren aus Einsamkeit, Depression und übertriebener Selbstreflektion – nicht um Serienmörder, wie man sie in US-Krimiserien wie „C.S.I.“ erwartet!

Zur Handlung: Der sich selbst Edgar Allan Poe nennende Unbekannte befindet sich auf einem Reitausflug in der Umgebung des entlegenen Hotels, welches er sich als Zuflucht und Versteck vor den Alpträumen auserkoren hat, welche ihn allnächtens heimsuchten. Während er durchs Moor reitet, fällt sein Blick auf die Wasseroberfläche eines dortigen Sees, in welcher er eine Ruine reflektiert zu sehen scheint. Dieses Bild reicht aus, um seinem Unterbewusstsein abermals eine Schauergeschichte zu entlocken.

In dieser ist er Allan, der einem brieflichen Hilferuf seines Schulfreundes Roderick Usher folgend auf dem Familienstammsitz der Ushers erscheint. Wie ihm Lady Madeline, Ushers Schwester, mitteilt, ist es um den Gemütszustand Rodericks nicht gut bestellt. Von Manien und Depressionen gepeinigt, schweife er tagein, tagaus zwischen psychischen Extremzuständen. Allans Anwesenheit, so die Hoffnung Madelines, helfe vielleicht, dieses Leiden zu lindern.

Doch wer ist wirklich der Kranke hier? Denn wie Roderick seinem alten Freund berichtet, wartet  Madeline auf den Tod, welcher sie in Bälde ereilen werde. Verwirrt und uneins über seine Loyalitäten und die unterschiedlichen Geschichten der beiden Geschwister, verliert sich Allan in Ratlosigkeit, bis ein schicksalhaftes Ereignis den status quo im Hause Usher nachhaltig und endgültig verändert.

So weit, so vertraut. Als auffallendste Abweichung zum Originaltext (sieht man einmal vom völlig eigene Wege gehenden Finale ab!) erscheint bei einem flüchtigen Blick auf dieses Hörspiel wohl die im Original noch namenlose Hauptfigur, aus der Halla vermutlich als Reverenz an die Inspirationsuelle Poe einen „Allan“ gemacht hat. Darüber hinaus verweist diese kurze Inhaltsangabe noch auf keine großen Abweichungen von Poes Klassiker, natürlich abgesehen von der durch die Serie bedingten Rahmenhandlung. Doch fehlt dem fertigen Hörspiel, so Leid es mir tut, die thematische Eindeutigkeit der literarischen Vorlage.

Poes „Usher“ ist Weltklasse, ein Meilenstein der Schauerliteratur und nicht ohne Grund bis heute eine der bekanntesten Erzählungen des Meisters. Konstant ist sie von Wehmut, Melancholie und einem andauernden Gefühl des drohenden Unglücks durchzogen. In Syntax, Sprachstil und Wortwahl allein gelingt es Poe, eine unheilvoll-zeitentrückte Stimmung aufzuziehen, vor deren Hintergrund seine Figuren agieren und die sich sowohl auf diese als auch auf die Leser überträgt. Klar, dass dieser Effekt für jegliche Form der Adaption nicht zu übernehmen ist (von Lesungen einmal abgesehen), da man dort ja mit neuen, eigenen Worten arbeiten muss.

Was dem vorliegenden Hörspiel aber nur sehr bedingt gelingt, ist der Versuch, dieses Manko durch eigene Ideen auszugleichen. Denn auch die neuen Einschübe wie Allans Ausritt durchs Moor, die langen Gespräche mit Madeline und die diesmal erstaunlich sinnfrei anmutende Rahmenhandlung scheinen zumindest dem Poekenner wie qualitativ hochwertiges Wassertreten. Wie der Versuch, das aufgrund der Adaptionsbeschränkungen stark zusammengestrichene Originalwerk künstlich zu verlängern, um auf die gewünschte Gesamtlaufzeit zu kommen. Besonders die Figur des Roderick sowie das absolut ... überraschende (da völlig vom Urtext abweichende) Ende stoßen Kennern der Vorlage übel auf. Melchior Halla liefert seine eigene Version der Geschichte routiniert ab, doch fehlt ihr die das Original durchziehende (und für einen Suggestivschreiber wie Poe dringend erforderliche) Poesie des Wahns.

Fazit: Melchior Hallas Hörspiel bietet abermals eine aufwändig inszenierte Gruselmär mit wirklich sehr gutem Sprecherensemble. Die Handlung verläuft flüssig und nachvollziehbar, die Spannungskurve ist spürbar und steigert sich zu einem beeindruckenden, wenn auch für Poekenner auf absolut unverständliche Art vom Original abweichenden Finale. Es scheint ob der schlicht genialen Ursprungsgeschichte eher seltsam, dass für diese Inszenierung so massiv in Poes Text eingegriffen wurde. Fast so, als befürchte die Produktion, Poes Grundthema der Manie und Obsession nicht adäquat genug aufbereiten zu können – dieser Mangel führt in Hallas Geschichte leider zu unnötig erscheinenden Trivialisierungen des Ausgangsmaterials. Dies ist sehr bedauerlich, bietet Poes „Der Untergang des Hauses Usher“ doch eine auch für heutige Rezipienten noch mehr als lohnenswerte und erschreckende Lektüre.


Edgar Allan Poe 3: Der Untergang des Hauses Usher
Hörspiel (sehr frei) nach der Erzählung von Edgar Allan Poe
Melchior Halla
Lübbe Audio 2003
ISBN: 3785713479
1 CD, 61 min., deutsch
Preis: EUR 7,95

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