Edgar Allan Poe 1: Die Grube und das Pendel

Er erinnert sich an nichts – nicht an seinen Namen, nicht an seine Herkunft, nicht an sein bisheriges Leben. Was zählt, was allein zählen muss, ist das Hier und Jetzt: das Innere einer (zunächst?) nicht näher charakterisierten Anstalt, deren Insasse er nun ist und wo er sich, einer zufälligen Idee folgend, völlig wahllos einen Namen gibt: Edgar Allan Poe.

von Christian Humberg

 

Edgar Allan Poe. Ganz richtig gehört, so nennt sich der orientierungs- und hilflos vor sich hin lebende Insasse, den allnächtens wahrhaft grausame Albträume heimsuchen, über deren Ursache und Inhalte er sich keinen Reim machen kann. Einem Wunsch seines Arztes (?) Dr. Templeton folgend, beginnt Poe, diese Träume niederzuschreiben. Der erste handelt von einer Grube und einem Pendel...

Ich trage einen großen Namen

... und das völlig zu Unrecht, denn mit der bekannten und geschätzten Erzählung „Die Grube und das Pendel“ von Edgar Allan Poe, dem amerikanischen Autor des frühen neunzehnten Jahrhunderts, hat das vorliegende Hörspiel überraschend wenig zu tun. Überraschend, weil es doch dessen Namen trägt und der Poes groß und breit auf dem Cover vermerkt ist, sodass beim Kunden der Eindruck entsteht, hier eine mehr oder minder werksgetreue Adaption des Poeschen Materials vor sich zu haben. Dieser Eindruck ist falsch. Woanders nennt man sowas wohl Etikettenschwindel...

Wenn wir aber den Mantel des Schweigens über diese ohnehin nur vermutete Taktik legen, haben wir es plötzlich mit einem wirklich exzellenten Werk zu tun, dass vollends zu überzeugen versteht und einen ordentlichen Gruselfaktor besitzt. Zwar hat beispielsweise auch Wolfgang Hohlbein seinerzeit nicht einfach H. P. Lovecrafts Namen groß und breit auf seine Hexer-Romane gepinselt, doch überzeugt das vorliegende Hörspiel jenseits dieser Titel-Verwirrung grandios.

Wie jetzt? Taugt’s doch was?

Oh ja, absolut. Und das beginnt schon bei der Aufmachung. Das von Simon Marsden gestaltete Cover- und Inlayfoto führt den Hörer schon optisch optimal in die Stimmung des Hörspiels ein, transportiert es doch die Einsamkeit und Trostlosigkeit der zentralen Figur Poe kongenial weiter. Die Besetzung um Ich-Erzähler und Hauptfigur Ulrich Pleitgen ist durch die Bank hörbar mit Begeisterung und großem Gespür für Atmosphäre am Werk, und Joachim Kerzel wird wohl irgendwann als der Sprecher ins Guinnessbuch aufgenommen, der bei den meisten deutschen Horrorhörspielen mitgewirkt hat. Immer gerne genommen. Auch Heinz Rudolf Kunzes musikalischer Rausschmeißer am Ende der Geschichte versteht es, sich stimmungsvoll ins Gesamtwerk einzugliedern.

Worum es in diesem Traum der Figur Poe geht –  der Seriencharakter der Produktion lässt vermuten, dass sich auch die späteren Folgen jeweils einem solchen Albtraum widmen werden – dürfte Poekennern bekannt sein. Die titelgebende Erzählung (im Deutschen je nach Übersetzung auch bekannt als „Wassergrube und Pendel“) dient als Inspiration (mehr nicht) für die eigentliche Handlung dieser Episode, um die sich die Selbstfindung des namenlosen Anstaltinsassen wie ein roter Faden windet. Das mag anfangs sicher verwirren und Poefans mitunter auch abschrecken – erst recht, wenn sie die CD aufgrund ihrer irreführenden Aufmachung für eine reine Inszenierung der Poe-Vorlage hielten. Doch wer diesem Hörspielfest keine Chance gibt, verpasst wirklich was.  

Fazit: Zugegeben: Mit Poes Geschichte hat das Hörspiel auch nicht mehr zu tun, als etwa Steven Soderberghs Film „Kafka“ mit der realen Person Franz Kafka, doch sollte diese eher irreführende Betitelung niemanden davon abbringen, sich das vorliegende Werk zu Gemüte zu führen. „Die Grube und das Pendel“ ist akustisch wie inszenatorisch auf sehr hohem Niveau und auch der Spannungsfaktor ist besonders gegen Ende der Story massiv. Das macht definitiv Hunger auf mehr.


Edgar Allan Poe 1: Die Grube und das Pendel
Hörspiel (sehr frei) nach der Erzählung von Edgar Allan Poe
Melchior Halla
Lübbe Audio 2003
ISBN: 3-7857-1343-6
1 CD, 59 min., deutsch
Preis: EUR 7,95

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