von Bernd Perplies
Hält man die deutsche Version der 2. Edition des „Earthdawn“-Grundregelwerkes erstmals in den Händen, beeindruckt bereits das Gewicht. 390 Seiten Regeln und Background-Informationen gehören unter den populäreren Spielsystemen eher zu Ausnahme (der Trend geht ja zur Zweiteilung: „Narrator’s“ und „Player’s Handbook“, wofür man gleich doppelt Kohle verlangen kann). Und noch ein paar Äußerlichkeiten weisen darauf hin, dass „Earthdawn“ schon immer ein Rollenspiel war und nicht ein Lizenzprodukt eines SciFi- oder Fantasy-Films. So wurde kein übertriebener Wert auf augenfälligen Glanz gelegt. Das Buch ist kein Hard-, sondern ein Softcover, es ist im Innenteil nicht bunt (nicht mal vereinzelte Farbstrecken wurden spendiert), sondern durchgehend schwarz-weiß, das Papier ist kein Hochglanz, sondern normale Taschenbuchqualität, das Layout strotzt nicht vor Ornamenten, Farbverläufen und Fotos, sondern besteht überwiegend aus schlichtem Zweispaltenaufbau mit auflockernden Bleistift- oder Strichzeichnungen alle zwei bis drei Seiten (deren Qualität klassisches Regelwerkniveau haben – von schlicht bis hübsch, aber nicht berauschend).
Aber das macht nichts, denn ungeachtet der einfachen Aufmachung steckt in diesen Seiten die Kenntnis eines Rollenspiel-Veteranen. Inhaltsverzeichnis und Index sind vorbildlich in ihrem Umfang (sogar ein Tabellenverzeichnis ist vorhanden – Spielleiter werden es den Machern danken) und die Kapitelstruktur ist trotz diverser Unterkapitel, die einen schnelleren Zugriff auf einzelne Regelmechanismen erlauben, übersichtlich gestaltet. Ein heute eher seltener Segen sind die zahlreichen Beispiele, die einzelne Regeln noch einmal an konkreten Situationen veranschaulichen. Das ist aber auch ganz gut so, denn die Regeln wirken – im Gegensatz zur Konkurrenz wie dem CODA-System – nicht nur recht eigen, sondern auch recht kompliziert.
Die Basis von Allem sind die Stufen – was zur Folge hat, dass primären Zahlenwerten wie Attributen oder Talenträngen sekundäre Stufen zugeordnet werden müssen. Stufen legen die Würfelkombination fest, mit der eine Erfolgsprobe abgelegt wird – dass es hierbei für jede Stufe eine eigene Kombination gibt, die mitunter abenteuerliche Formen annimmt (1W8+W6), scheint ein System zu sein, dass ziemlich allein auf weiter Rollenspielflur steht. Das Konzept ist klar: Jede Stufe gibt durch seine korrespondierende Würfelkombination bereits genau den durchschnittlichen Erfolgswert bei einer Probe an. Der Nachteil auf Spielerseite liegt jedoch auf der Hand: Bis in höchste Heldenlevel spielt Würfelglück eine entscheidende Rolle. Auch ein Attributswert von 30 (Stufenzahl 11) kann ein Würfelergebnis von 2 zur Folge haben – wenn auch statistisch gesehen seltener als bei einem geringeren Attributswert. Modifikatoren, die eine konstante Würfelkombination (etwa 1W20 oder 2W6) mit zunehmender Erfahrung des Charakteres immer weiter verbessern, gibt es hier nicht. Dieser prinzipiellen Schwäche eines fast 10 Jahre alten Systems muss man sich bewusst sein, bevor man in „Earthdawn“ einsteigt.
Doch kommen wir zum Inhalt: Zu Beginn des Buches steht die obligatorische Einführung in die Atmosphäre und Geschichte Barsaives, des Kontinents, auf dem Earthdawn angesiedelt ist. Hier werden bereits zwei bedeutende Spielziele hervorgehoben: der Kampf gegen die verbliebenen Dämonen der Plage sowie die Entwicklung von Legenden. Dies geht mit ein paar kruden Eigenheiten daher, etwa dass Namen wiederholt besondere Bedeutung zugesprochen wird und dass jeder Charakter in irgendeiner Weise künstlerisch begabt sein muss, um seine „Menschlichkeit“ nachweisen zu können. Im Rahmen dieser Einführung werden die wichtigsten Rassen Barsaives vorgestellt. Es sind acht an der Zahl und alle ziemlich „klassisch“ (den Höhepunkt an Exotik bilden die Obsidianer, eine Art Steinmenschen, und die T'Skrang, eine Art Echsenmenschen). Wie bereits bei „Shadowrun“ zählen Orks und Trolle explizit zu spielbaren Rassen – die Welt von FASA ist nicht so schwarz-weiß gezeichnet wie das tolkiensche Vorbild.
Die Charaktererschaffung ist an und für sich übersichtlich gestaltet und gut zu bewältigen, wenn man sich einfach am Text entlanghangelt. Es gibt jedoch so viele kleine „Sonderregeln“ und Anmerkungen, dass sich hier die Qual der Wahl der Beurteilung stellt: Nennt man diesen Komplexitätsgrad nun „realistisch“ oder „abschreckend“? 13 Disziplinen (vom Dieb bis zum Waffenschmied, wobei einzig Luftpirat wirklich originär ist), 150 Talente und ca. 70 Fertigkeiten lassen viel Raum für Bastler. Die Auflistung der Talente erscheint jedoch ein wenig irritierend, da hier magische „Vorteile“ wie „Astralsicht“ mit „normalen Fertigkeiten“ wie „Feilschen“ oder „Klettern“ vermischt werden. Um dem noch eins draufzusetzen, tauchen diverse Talente unter Fertigkeiten noch einmal auf (beispielsweise „Klettern“), wobei der einzige Unterschied in der größeren Effektivität des Talents liegt (Reinhold Messner versus Spiderman). Natürlich hebt dies die Allgegenwärtigkeit der Magie in „Earthdawn“ hervor, wodurch sich das Spiel von anderen Fantasy-Systemen abzuheben sucht, andererseits ist diese Verwischung von Magie und Handwerk regeltechnisch ein bisschen gewöhnungsbedürftig.
Das Kapitel „Magie“ umfasst sage und schreibe 70 Seiten. Wer sich also zum Elementaristen oder Geisterbeschwörer berufen fühlt, muss viel Zeit mitbringen, um sich in die Konzepte und Regeln einzuarbeiten. Die Komplexität der „Magietheorie“ der „Earthdawn“-Autoren ist zweifelsohne beeindruckend, doch wie alle umfangreichen Spielmechanismen ein zweischneidiges Schwert. Während Puristen und Hardcore-Gamer sich über die Vollständigkeit des Systems freuen, das kaum Fragen, dafür aber viele Möglichkeiten offen lässt, fühlen sich Gelegenheitsspieler beziehungsweise solche, denen cineastische Dramatik wichtiger ist als regeltechnische Vielfalt und ausgefeilte Akkuratheit, von der Materialmenge schier überwältigt. Fadenmagie, Blutmagie, Rohe Magie, Schlüsselinformationen sammeln, Zauber abgleichen, Faden weben... wer glaubt, mit der Hand winken zu können, fünf Magiepunkte abzuziehen und dafür einen kapitalen Feuerball zu ernten, irrt gewaltig.
Auch die Kampfregeln sind sehr vollständig: Vom bewaffneten und unbewaffneten Nahkampf über Fernkampf, Kampf zu Reittier oder in der Luft bis zur Anwendung von Magie ist alles abgedeckt, was einem in bewaffneten Auseinandersetzungen so widerfahren kann. Zudem werden einige zusätzliche Kampfoptionen und Situationsmodifikatoren behandelt. Mit „Abenteuer in Earthdawn“ folgt dann eine Art Regelkompendium für allerlei allgemeine Gefahren und Umstände, die möglicherweise einer geregelten Abwicklung bedürfen. Dazu zählen solche „Hazards“" wie Gifte, Flüche oder Fallen, Hinweise zu Fahrten über Land oder See und ein paar Notizen zum Beutezug. Auch die übrigen Kapitel sind eher kurz abzuhandeln, da sie im Wesentlichen dem entsprechen, was heutzutage als „Struktur“ eines Rollenspielregelwerks Standard zu sein scheint: Da wären die Charakterverbesserung, hier in „Legendenpunkten“ abgehandelt (jede Tat trägt zur Legende des Charakters bei, die irgendwann irgendwo besungen wird) und daran schließen sich die obligatorischen Ratschläge für Spielleiter an, in diesem Fall noch erweitert um Hinweise zur Verteilung von Legendenprämien und zur Ermittlung von Erfolgsgraden bei Würfelproben.
Der letzte Block ist – wie fast immer – der Background-Block. Waren- und Dienstleistungen, Magische Schätze, Kreaturen, Dämonen und Götter (hier Passionen genannt) sowie der Kontinent Barsaive werden hier vorgestellt. Fantasy-typisch liegt das Übergewicht der Waren natürlich im Kriegswerkzeug, dennoch sind die Preislisten recht vollständig und führen dankbarerweise auch Durchschnittspreise für Mahlzeiten, Unterkünften sowie Gehälter für Boten, Alchimisten usw. auf. Während das Monstermanual recht umfangreich und vielseitig ist, finden sich nur neun Dämonen im besagten Kapitel beschrieben. Andererseits ist dies zunächst mehr als ausreichend, denn bis eine Heldentruppe Begegnungen mit allen neun überlebt hat, dürfte jeder Spielleiter seine eigenen Monströsitäten erfunden oder genug Goldstücke zurückgelegt haben, um sich ein zusätzliches Quellenbuch zu kaufen. Sträflich vernachlässigt wurde leider die Länderbeschreibung am Ende. Gerade mal sieben Seiten wurden der Welt gewidmet, zu jedem Eintrag finden sich durchschnittlich zwei Absätze. Hier muss viel selbst erfunden werden – sofern man nicht in die zahlreichen Kampagnensets investieren will, die zum Grundregelwerk herausgekommen sind.
Als Bonus liegt dem Regelwerk eine ziemlich rot-braune DIN-A3 Karte der Spielregion Barsaive bei. Das ist sicher gut gemeint und gibt auch einen ersten Überblick, für das Spiel selbst ist sie allerdings zu oberflächlich, verzeichnet sie doch gerade mal die sieben größten Städte und ein paar Wälder und Gebirge und das auf einem Areal von 862.400 Quadratmeilen (11x16 Inch zu je 70 Meilen) – ziemlich leer, das Land ...
Fazit: Sicherlich ist „Earthdawn“ kein drittes Rad am Wagen. Die Regeln sind mehr als komplett zu nennen (wenngleich, wie beschrieben, mitunter etwas eigen) und die Hintergrundinformationen – abgesehen von der Weltenbeschreibung – reichen für diverse Abenteuerrunden locker aus. Nichtsdestoweniger wird es das Spiel in diesen Tagen eher schwer haben. Es hat kein so eindeutiges Profil wie „BattleTech“ oder „Shadowrun“, sondern tritt in direkte Konkurrenz zu Fantasy-Größen wie „DSA“ und „D&D“, wobei vor allem Letzteres durch sein offenes „D20“-System auf eine unglaubliche Bandbreite von Produkten zurückgreifen kann, die gerade unerfahreneren Gruppen, die noch nicht alles selbst erfinden, was einem Regelwerk fehlt, ein erheblich größeres Abenteuerspektrum ermöglichen.
Earthdawn – 2. Edition
Grundregelwerk
Jordan Weisman, Greg Gordon, Tom Dowd u. a.
Games-In Verlag 2002
ISBN: 3-929875-26-8
390 S., Softcover, deutsch
Preis: EUR 35,00
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