Die Leiche und das Sofa

Ein Sommer auf dem Land. Es ist Ferienzeit. Die Zeit scheint stillzustehen. Langeweile macht sich breit. In diese Atmosphäre hinein erfindet der Künstler Tony Sandoval eine Geschichte mit dem Titel „Die Leiche und das Sofa“. In dieser Geschichte trifft der schüchterne Junge Polo auf eine junge Städterin, die für die Ferien zu ihrem Vater aufs Land gezogen ist. Beide fühlen sich als Außenseiter und kommen sich von Tag zu Tag näher. Dann entdeckt Polo im Feld eine Leiche, die ihm Albträume bereitet. Entsprechende Traumvisionen und tranceartige Bilder entstehen und verwischen zunehmend Realität und Fantasie. Was sind das nur für sonderbare Sommerferien?

von Daniel Pabst

Den Künstler Tony Sandoval kennt man für seinen fantasievollen Zeichenstil. Wer sich im Comic-Laden seines Vertrauens umsieht, der findet neben dem neuesten Titel „Die Leiche und das Sofa“ vielleicht auch die Werke „Wasserschlangen“, „Doomboy“ und „1000 Stürme“. Besonders eindrucksvolle Bilder entstehen bereits durch das von Cross Cult gewählte Großformat des Comics. Neuartig ist diesmal der sprunghafte Wechsel zwischen Farbseiten und Seiten, die in „Schwarz-Weiß-Petrolgrün“ gehalten sind. Auch die Panelgestaltung variiert. Dieser Comic hebt sich „sandovaltypisch“ stark von anderen Comics ab und wird ein eher kleineres Publikum finden.

Die Geschichte fängt zunächst harmlos an. Wir sehen einen traurig dreinblickenden, schwarzhaarigen Jungen mit den Händen in der Tasche, der sich später als Polo vorstellt. Er steht vor einem tropfenden Wasserhahn mitten im Nirgendwo. Im Hintergrund sieht man eine einsame Straße und Berge. Die Sommersonne beleuchtet die Szene in sandigen Gelb- und Orangetönen. Weitere Hinweise auf eine entfernte Zivilisation sind ein Hochspannungsmast und der besagte tropfende Wasserhahn. Was macht er da draußen? Was sucht er? Die Antwort lesen wir sogleich: Polo sagt uns, dass er sich mit der Erkundung und der Beobachtung beschäftigt.

Sodann wird diese merkwürdige Trostlosigkeit durch den Auftritt eines Mädchens unterbrochen, welches sich unter einem Zaun hindurchzwängt und neben Polo tritt. Sie ist für die Sommerferien aufs Land gekommen. Mit ihren – ebenfalls – schwarzen, im Wind wehenden Haaren erzeugt sie Unsicherheit bei Polo. Gleichzeitig fühlt er sich von ihr angezogen. Um die unangenehme Stille zu durchbrechen, fragt er sie, ob ihr aufgefallen sei, dass „Makel die Dinge interessanter machen“? Um dies zu begründen, zeigt er auf den tropfenden Wasserhahn und erklärt: „Dieser Wasserhahn (…), weil er nicht richtig schließt, lässt er das Wasser laufen und dadurch lockt er Insekten an und in seiner Nähe wachsen Pflanzen, das wäre anders, wenn er richtig funktionieren würde.“

Auf diese erste Begegnung folgen weitere Treffen und Gespräche der beiden. Das Mädchen namens Sophie lädt ihn zu dem Haus ihres Vaters ein und sie schauen gemeinsam Fernsehen. Sophie hat 180 TV-Kanäle zu bieten, was Polo beeindruckt und so „zappen“ sie die Nächte durch die Kanäle (ein Phänomen, welches angesichts der diversen Streaming-Anbieter heute am Aussterben ist und so die Geschichte in die Vergangenheit versetzt). Dass der Vater von Sophie sie dabei nicht unterbricht und wohl auch des Nachts abwesend ist, fällt gar nicht auf. Polo hat allein Augen für Sophie. Als es dann zur ersten (absichtlichen) Berührung kommt, verliert er jegliches Gefühl für die Zeit und den Raum. Es kribbelt überall: Er hat Schmetterlinge im Bauch.

Dies könnte der Beginn einer Sommerliebe werden, wäre da nicht der Titel „Die Leiche und das Sofa“, mit der Sandoval bereits von Beginn an neben den Fernseher mit den 180 Kanälen einen Elefant in den Raum gestellt hat. Denn was nicht unerwähnt bleiben sollte ist, dass Polo den Lesenden auch erzählt, dass ein Junge aus der Nachbarschaft (namens Christian) verschwunden ist und daher keines der andern Kinder mehr nach draußen gehen würde. So haben Polo und Sophie viel Raum für sich. Eine verlassene Bushaltestelle wird zum wärmenden Unterschlupf und ein stehengelassenes Sofa wird zur gemütlichen Oase der Ruhe und Zweisamkeit.

Nachdem Polo eines Nachts auf dem Heimweg die Leiche von Christian auf einem Feld findet, vertraut er sein Geheimnis Sophie an. Langsam zweifelt Polo an der Realität und fürchtet, dass Werwölfe etwas mit dem Tod von Christian zu tun gehabt haben könnten. Gehen die Kinder aus dem Dorf deswegen nicht mehr raus, weil sie einen Angriff der Werwölfe fürchten? Oder sind es Vampire? Und ist die plötzliche Liebe zwischen Polo und Sophie möglicherweise nicht dem Zufall geschuldet? Darf man seinen Gefühlen so schnell freien Lauf lassen? Polo ist verwirrt und träumt die sonderbarsten Szenen. Als Sophie dann Ana, eine Schulkameradin von Polo, zum Foto-Shooting einlädt, ist er hin- und hergerissen. War Ana nicht Christians Freundin?

Durch die intensiven Zeichnungen von Sandoval bekommt diese Geschichte einen magischen Touch. Nie kann man dem Gezeichneten trauen. Durch die Verquickung zwischen einem tragischen Tod (war es Mord?) und dem (investigativen) Sommerabenteuer wird nicht nur die Gefühlswelt von Polo heiter durcheinandergewürfelt. Dadurch, dass noch Werwölfe in dem Dorf ihr Unwesen treiben sollen, eröffnet Sandoval das Rätselraten. Bei all dem „Zauber“ trägt die wechselhafte Farbgebung ihre eigene Signatur. Hinzu tritt der eigenartige Zeichenstil, bei dem die Köpfe überproportional groß sind und die Augen, Nasen und Zähne der Charaktere im Vordergrund stehen. Da es in weiten Teilen um die Liebe geht, lässt Sandoval es sich nicht nehmen, nackte Haut zu zeigen. Zwar dient dies einem Zweck, wäre aber in seiner Fülle und Blöße so definitiv nicht notwendig gewesen.   

Fazit: Insgesamt ist „Die Leiche und das Sofa“ eine künstlerische Erzählung über die erste große Liebe, das Alleinsein und die Frage, wie jeder und jede Einzelne mit plötzlichen Verlusten umgeht. Ein Sommer mag nach außen hin wärmend und verheißungsvoll sein, vermag aber nicht immer das ersehnte Glück bringen. Der junge Polo führt uns in diesem Comic durch die Höhen und Tiefen der ersten Liebe und des Erwachsenwerdens, wobei viel Raum für eigene Assoziationen bleibt. Wer mal etwas Sonderbares und mit einem „Makel“ Behaftetes lesen möchte, der erhält mit „Die Leiche und das Sofa“ die Gelegenheit zu einer phantasievollen, teils makabren und irgendwie äußerst nachdenklichen Geschichte.  

Die Leiche und das Sofa
Comic
Tony Sandoval
Cross Cult 2023
ISBN: 978-3-98666-216-5
95 S., Hardcover, deutsch
Preis: 25,00 EUR

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