Die Kinder Húrins

Seit seinem Epos „Der Herr der Ringe“ gilt der britische Literaturprofessor J. R. R. Tolkien als Übervater aller Fantasy-Literatur, die nach ihm kam. Doch sein Werk rund um die Welt Mittelerde war stets überschaubar. „Der kleine Hobbit“ ist eigentlich der einzige jemals eigenständig erschienene Roman; alles andere waren Erzählungen und Fragmente, die etwa im „Silmarillion“ und in den „Nachrichten aus Mittelerde“ in mehr oder minder lesbarer Form herausgebracht wurden. Nun erscheint auf einmal, lange nach Tolkiens Tod, das Buch „Die Kinder Húrins“, eine Sage aus den Ältesten Tagen Mittelerdes ...

von Bernd Perplies

Die Geschichte spielt in den Tagen, da der Schatten von Morgoth wieder auf Beleriand fiel, Jahre nach der schicksalhaften Schlacht der Ungezählten Tränen, in der Húrin von Morgoth gefangen und das Haus Húrins verflucht wurde. Túrin, der Sohn Húrins wächst in einem Land auf, das immer mehr von Orks und Ostlingen bedroht wird, und schließlich schickt ihn seine Mutter Morwen fort zu den Elben nach Doriath, wo er in Sicherheit aufwachsen soll. Sie aber will ihre eigene Halle nicht verlassen – außerdem ist sie mit Túrins Schwester Nienor schwanger und kann nicht reisen.

Und so beginnt die Sage von Túrin Turambar, dessen trauriges Schicksal es sein wird, Zeit seines Lebens keine Ruhe und keine Heimat zu finden und der so vielen seiner Freunde und Weggefährten den Tod bringen wird. Von J. R. R. Tolkien in zahlreichen Fragmenten und diversen Varianten einst niedergelegt und jetzt von seinem Sohn Christopher Tolkien, der sein ganzes Leben der Aufbereitung des literarischen Nachlasses seines Vaters gewidmet zu haben scheint, nach aufwändiger Recherche zu einer weitgehend geschlossenen Form zusammengeführt, wird dem Leser ein Abenteuer dargeboten, das in Stil und Inhalt sich unter germanischen Heldenepen einreihen möchte.

Es wird vom Aufwachsen Túrins bei den Elben von Doriath erzählt und von seinen Heldentaten im Kampf gegen die Orks. Von Neid und Missgunst wird berichtet und wie der allzu stolze junge Menschenkrieger den Elben den Rücken kehrt, um in der Ferne sein Glück zu suchen. Er lebt unter Geächteten, trifft dann einen alten Freund wieder und findet seinen Weg zu den Elben von Nargothrond, nur um auch dorthin den dunklen Blick Morgoths und seines Dieners, des Drachen Glaurung, zu lenken. Im Laufe der Jahre führen ihn seine Reisen auch zurück in seine Heimat Do-lómin und schließlich zu den Waldmenschen von Brethil, wo er zuletzt glaubt, sein Glück gefunden zu haben, nur um es auf tragische Weise wieder zu verlieren.

„Es gibt eine Menge Leser, die sich nie an die Legenden der Ältesten Tage [...] herangetraut haben. Eilt diesen Geschichten doch der Ruf voraus, einen merkwürdigen Stil und eine unzugängliche Erzählweise zu haben“, schreibt Christopher Tolkien im Vorwort des Buchs. „Aus diesem Grund war es mir seit langem ein Anliegen, die Langfassung der Geschichte der Kinder Húrins als eigenständiges Werk in Buchform zu präsentieren, ohne den ganzen Apparat eines Herausgebers und vor allem in einer durchgehenden Erzählung ohne Lücken oder Unterbrechungen [...]“

Dieses Unterfangen, so stellt man am Ende der Geschichte erstaunt fest, ist dem Herausgeber wirklich bemerkenswert gut gelungen. Auch wenn der Stil Tolkiens nach wie vor sehr gehoben und gewichtig daherkommt, kann man das Leben Túrins tatsächlich als runden Fantasy-Roman genießen – sofern man bereit ist, eine „Sage“ und keine typische „Taschenbuch-Belletristik“ zu lesen. Vorwissen wird praktisch keines vorausgesetzt, dem neugierigen Mittelerde-Freund wird trotzdem dank einigen Texten (sowohl über „Mittelerde in den Ältesten Tagen“ als auch zur Entwicklung und jüngsten Zusammenstellung des Schriftwerks an sich) wissenswertes Begleitwerk geboten.

Die Aufmachung des Buchs ist schlicht und ergreifend hervorragend zu nennen. Der Hardcoverband mit Lesebändchen steckt in einem edlen Umschlag mit Goldprägung und einem stimmungsvollen Motiv von Mittelerde-Zeichner Alan Lee. Acht Farbtafeln, die wundervoll die Stimmung der Erzählung einfangen, hauchen dem Roman bildlich Leben ein, dazu wird jedes Kapitel durch eine Bleistiftzeichnung eingeleitet. Stammbäume, eine umfangreiche Namensliste und eine am Ende eingeklebte Karte vervollständigen diese bibliophile Ausgabe. Man würde sich wirklich wünschen, dass Romanen häufiger eine derart prachtvolle Behandlung zuteil werden würde.

Fazit: Manch einer mag sich zweifelnd fragen, ob „Die Kinder Húrins“, deren Geschichte in unterschiedlicher Ausformung doch bereits im „Silmarillion“ und dem „Buch der Verschollenen Geschichten“ nachzulesen war, als eigenständiger Roman nicht bloß Geldmache mit dem Namen eines berühmten Autors ist. Dem ist meines Erachtens keineswegs so. Denn tatsächlich wird hier erstmals auch Lesern, denen die fast (literatur)historische Herangehensweise der oben genannten Bände zu sperrig war, eine Sage aus dem Mittelerde-Korpus Tolkiens präsentiert, die für sich selbst stehen kann und auf dramatische Weise das Leben eines tragischen Helden aus der Frühzeit Mittelerdes darbietet. Die hervorragende Aufmachung hinzugenommen, ist Fantasy-Liebhabern, deren Horizont nicht bei aktuellen Taschenbuch-Bestsellern endet, das Buch uneingeschränkt zu empfehlen.


Die Kinder Húrins
Fantasy-Roman
J. R. R. Tolkien, Christopher Tolkien
Klett-Cotta 2007
ISBN: 978-3-608-93603-2
334 S., Hardcover, deutsch
Preis: EUR 19,90

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