Die Götter von Whitechapel

Mama Maschine und Großväterchen Uhr drohen, das viktorianische London von innen heraus zu sprengen. Sie regieren mit Hilfe von Furcht, Paranoia und brutaler Gewalt. Als Truppen dienen ihnen die Schwarz- und Goldmäntel, halb Mensch, halb Maschine, sowie die furchtbaren Kesselmänner. Die Menschheit lebt unter der hypnotischen Gedankenkontrolle Großväterchen Uhrs oder werden zu Brennstoff für die Schmelzöfen des Schlotes.

von Oliver Adam

Vor diesem hoffnungslosen Hintergrund bleibt den Menschen nur eine Hoffnung: eine kleine Gruppe an Rebellen, die gegen das industrielle Regime kämpfen und die finsteren Götter vernichten wollen. Angeführt wird dieser Widerstand von dem jungen Mann Oliver Summers, der bereits in der Vergangenheit einen Aufstand angezettelt hatte und sich noch heute Vorwürfe für sein damaliges Versagen macht. Für ihn arbeiten unter anderem Missy, eine Hure mit einem dunklen Geheimnis, und Tommy, der sanfte Riese, dessen Körper sich dank eines Technovirus nach und nach in eine Maschine verwandelt.

In „Die Götter von Whitechapel“ versetzt S. M. Peters den Leser in eine düstere, brutale und schonungslose Steampunk-Welt. Asche fliegt durch die Luft, in den Brennöfen lodert ein verzehrendes Feuer, das von den Körpern der Untertanen genährt wird, und das unbarmherzige System verfolgt jeden Andersdenkenden. Eine aufgesetzte Romanze oder verklärte Abenteuerromantik wären völlig fehl am Platz in der von Hoffnungslosigkeit geprägten Welt – und S. M. Peters macht auch keinen Versuch, einen derartigen Handlungsstrang aufzubauen.

So originell und überzeugend der Hintergrund sowie die stimmungsvolle Atmosphäre auch sein mögen, leider hat „Die Götter von Whitechapel“ auf den knapp 450 Seiten auch augenfällige Schwächen. Der Einstieg in die Geschichte wird dem Leser sehr schwer gemacht. S. M. Peters wirft ihn ohne Erklärungen oder Einführung mitten in die Geschichte – auf ein „Setting the Scene“ wird völlig verzichtet. Die Protagonisten und die Welt sind einfach da. Als Leser hat man das Gefühl, den zweiten Band einer mehrteiligen Reihe in Händen zu halten und den Auftaktband mit der Beschreibung der Hintergründe und Charaktere übersprungen zu haben.

Grundsätzlich erhalten die Charaktere (sowohl Protagonisten als auch Antagonisten) keine wirkliche Beschreibung oder Charakterzeichnung. Häufig ist der Leser irritiert, wer denn nun zu wem gehört und wer nun gegen wen handelt. Auch die Antagonisten und deren Monster werden oftmals einfach nur genannt – wie ein Schwarzmantel oder die Kesselmänner aussehen ist auch nach Abschluss des Buches nicht klar. Das hat zur Folge, dass dem Leser letztendlich das Schicksal der Figuren gleichgültig ist.

Explizite Ausnahme hiervon ist Missy, die ehemalige Hure, die in ihrem Kopf immer noch die Stimmen ihrer alten Herrin hört. Dieser Charakter wird sehr tiefgründig gezeichnet und über den Band fortentwickelt, sodass man sich wünschen würde, Peters hätte alle Figuren derart überzeugend und vielschichtig aufgebaut.

Auch beim Plot und der Beschreibung der Welt spart Peters mit Erklärungen. Vieles bleibt nur grob angedeutet, wichtige Ereignisse, deren Beschreibung einiges an Dramatik hätte vermitteln können, werden nur zusammengefasst beschrieben. Dementsprechend erfolgt auch die finale Auflösung weniger als fulminanter Showdown, sondern passiert „einfach so“.

Fazit: „Die Götter von Whitechapel“ ist ein lupenreiner Steampunk-Roman – düster, brutal und schonungslos. Die originelle Grundidee sowie die Atmosphäre überzeugen. Aufgrund der Schwächen sowohl im Aufbau der Charaktere als auch in der Plotführung kann der Roman jedoch nur eingefleischten Steampunk-Fans empfohlen werden.


Die Götter von Whitechapel
Urban-Fantasy-Roman
S. M. Peters
Feder&Schwert 2011
ISBN: 978-3-86762-103-8
448 S., Taschenbuch, deutsch
Preis: EUR 13,99

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