Dementophobia – Wahn und geistiger Verfall

Das Haupthema des „Cthulhu“-Rollenspiels ist neben Horror, Kultisten und großen und kleinen „Alten“ der Wahnsinn. In seiner spieltechnischen Ausführung allerdings ist er gleichzeitig auch oft ein Problem. Zu viel, zu oft, wie, wann, warum – alles Punkte, die dem Spielleiter Bauchschmerzen machen und den Wahnsinn auch in sein Gesicht treiben... Ein „Cthulhu“-Handbuch des Wahnsinns – also essenziell?

von Karen Brigitta Götz

 

Seien wir ehrlich, die Anleitungen im alten und neuen „Spielleiter-Handbuch“ sind recht hübsch, aber leidlich unpraktisch: viel zu detailliert mit ihren Tabellen und noch mehr Würfen, aber andererseits zu zufällig, um zur jeweiligen Situation zu passen. Kann die Gruppe am Spieltisch es wirklich verkraften, dass Thomas nun im Stupor versinkt und den Rest des Abends nur noch zuschaut (blöd, wenn man gerade erst seit einer Stunde spielt) oder soll man ihn zwingen, in dem eng gefassten Abenteuer noch schnell einen Ersatz-SC zu stricken (kostet ja immer viel Aufwand und Herzblut und die letzten drei Ersatz-SC im Rucksack sind schon verbraucht). Man kennt diese Probleme…

Was man also als SL bisher macht, ist sich den Wahnsinn in eigenen (nur für dieses Abenteuer/diese SC o. ä.)  Tabellen/ Kärtchen/Notfalleinsatzplänen zusammenzustellen und zu hoffen, dass man im Fall des Falles alles wie von Zauberhand parat und plausibel hat. Doof ist nur, dass die wenigsten SL von Psychologie so richtig Ahnung haben und sich daher schnell auffällige Fehler einschleichen können oder Manfred nun schon zum dritten Mal eine Phobie bekommt, weil die so schön nachvollziehbar und einfach zu spielen sind. Und wie ist das eigentlich mit dem Gesundwerden, was wird da wie wo angewandt und: TUT DAS WEH???

Lücken über Lücken, die dieses Buch zu füllen sucht. Und gar nicht mal schlecht. Super wie immer: die Illustrationen, der Aufbau und die Hintergründe zu historischen Personen (Freud, Jung und andere Größen dieses Feldes), sehr schön auch die Darstellung des Gesundheitssystems (ja, alles in Geschichte schon mal gehört, aber – ist doch schon ein Ideechen her...) in Deutschland, GB und den USA, zu verschiedenen Heilungsmethoden (brzzl – qualm – stink – zuck) und zu den verschiedenen (klassenabhängigen) Heilanstalten/Verwahranstalten. Letztere sind exemplarisch in Abenteuer einbaubar und haben so nützliche Angaben wie: Überlebens-, Heilungs- und Entlassungsquote...

Ebenfalls mit klarem Blick auf den praktischen Gebrauch durch den SL sind die einzelnen Geisteskrankheiten organisiert. So gibt es schicke Tabellen zu Phobien („Zwölf Dutzend Ängste“), die thematisch überschrieben schon mal eine Vorauswahl zulassen und sich gut für den schnellen Einsatz eignen. Aber auch der Rest des Psychologie-Buches ist hier versammelt, mit klaren Erklärungen, Anwendungsbeispielen und „woher kommt’s – wohin geht’s“. Besonders nützlich für alle Anhänger von Übersichten: die umfassende Tabelle zu „Geistesstörungen im Spiel“, die, neben einem exemplarischen Auslöser (sind wohl eine recht überschaubare Anzahl von Gräßlichkeiten, die wir unseren armen Opf... äh, Freunden zumuten), für den Fall eines kurz- beziehungsweise langfristigen temporären Traumas und der geistigen Umnachtung passende Störungen zuordnen. Wirklich essenziell ist aber auch das Kapitel „Der Wahnsinn und der Spielleiter“, das sich nämlich mit genau dem anfangs angesprochenen Problem der geschickten, unaufdringlichen aber wirksamen Einbindung des beginnenden geistigen Zerfalls  in das eigentliche Rollenspiel beschäftigt.

Des Weiteren gibt es eine recht ausführliche Abhandlung über den Wahnsinn und seine Wirkung auf die Gesellschaft durch die Jahrhunderte, über Syphilis (gerne gesehen, schnell zu haben und sooo schöne Auswirkungen – auf Jahrzehnte hinaus!) und zahlreiche Szenario-Ideen. 

Was natürlich auch nicht fehlen darf, sind in einem Band wie diesem die Abenteuer. Hier sind es gleich drei an der Zahl. Vom Schwierigkeitsgrad ist wohl das letzte das einfachste und das zweite als das schwerste anzusehen, obwohl dort vorgefertigte Charaktere zu verwenden sind. Alle Abenteuer drehen sich natürlich in irgendeiner Weise um den Wahnsinn: „Das Sanatorium“ ist die Übersetzung des bekannten Abenteuers von Keith Herber. „Das verlorene Gestern“ kehrt hier im großen Stil mal die Perspektive der SC um, denn man erwacht in einer Anstalt unter Verschluss und mit Amnesie. Was vorher war, bekommt man dann in Rückblenden mit und schafft es hoffentlich noch rechtzeitig zum Showdown zu verstehen, wer der Bösewicht ist... „ In Scherben“ liegt, wenn das Abenteuer durch ist, das Leben der (vorgegebenen) SC, alles dazwischen ist jedoch im Rahmen ausführlichster Charaktervorgaben (Neigungen, Ängste, Temperament etc.) von den Spielern selbst zu erarbeiten, nur ein paar Situationen und NSC werden in diesem, optional auch ohne Würfel zu gestaltenden, Abenteuer vom SL beigesteuert und so von allen zu hoffentlich dichtem Rollenspiel verwoben.

Fazit: Alles in allem ist „Dementophobia“ ein extrem nützliches Buch und so interessant geschrieben und medizinisch valide, dass mancher SL an sein Psychiatrie- und Psychologie-Lehrbuch zurückdenkt und sich fragt, warum zum Teufel man dieses Buch nicht schon im Studium hatte, womit wir wieder beim Wahnsinn wären: Kreuzchen, überall Kreuzchen – die Welt passt nicht in A-E, ARGHHHH...

PS: Randbemerkung und vielleicht nur mir passiert: Beim pfleglichen Lesen fielen mir plötzlich die ersten Seiten als Block entgegen. Das Ganze lässt sich zwar problemlos wieder leimen, aber es hinterlässt einen Abzug in der B-Note, so was gab’s früher (als noch alles besser war) nicht...


Dementophobia – Wahn und geistiger Verfall
Quellenbuch
Heiko Gill (Hrsg.)
Pegasus Press 2007
ISBN: 978-3-9397826-77-6
240 S., Hardcover, deutsch
Preis: EUR 29,95

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