von Jens Peter Kleinau
Am augenfälligsten sind die Beteiligung dreier Illustratoren, die eindeutig zu den lokalen Größen der Spielproduktion gehören. Mit Marko Djurdjevic, Tobias Mannewitz und Klaus Scherwinski hat sich ein Trio zusammengefunden, das jedes Rollenspiel zu einem optischen Augenschmaus gemacht hätte. In dem vorliegenden Werk haben sich die Zeichner ausgetobt und die Bebilderung nimmt einen herausragenden Stellenwert in dem Produkt ein. Ihre Wirkung ist derart präsent, dass sie vor der Kenntnis des ersten Satzes eines Absatzes einen durchdringenden Eindruck der Welt vermittelt. Sie geht einher mit einem deutlich akzentuierendem Layout, das selbst die wenigen Seiten ohne Bebilderung zu kleinen Kunstwerken macht. Deutlich erkennbar ist die hier die Arbeit eines Künstlers als Layouter.
Dass darunter ab und zu die Lesbarkeit leidet und das flüssige Durchlesen schwierig macht, ist bei dem Buch absolut verzeihbar. Denn ein Grundregelwerk gehört eindeutig nicht in die Kategorie der Unterhaltungsliteratur, sondern soll sorgfältig und mit in diesem Fall sogar erzwungener Konzentration gelesen werden. Entsprechend wurden Seiten mit Kurzgeschichten dezenter gesetzt und sind leichter durchzulesen. Lobenswert an dem Layout sind die gut als Lesemarken herausgearbeiteten Überschriften und die Positionierung wesentlicher Textstellen durch Rahmung. Nicht so leicht lassen sich Textpassagen wiederfinden. Zwar hilft der Index im Anhang und die saubere Strukturierung etwas, doch das dem Optischen untergeordnete Layout verhält sich nun mal nicht wie ein Bedienungshandbuch.
Neben dem hervorragenden Artwork besteht das Rollenspiel auch aus dem textlichen Inhalt. Dieser wurde von Christian Günther, Tim Struck, Marko Djurdjevic und Malte Belz zu Papier gebracht. Die Autoren konnten sich dabei auf eine kritische und konstruktive Community berufen, deren mehr werdende Mitglieder seit den Anfängen im Jahr 2000 das Projekt begleitet haben. Das vorliegende Produkt kommt mit einer eigenen spannenden Historie, die mit einem kleinen Projekt begann, das schließlich zu einem Regelwerk reifte und vor einem Jahr einen kompletten Neuanfang wagte. Dieser nahm all die Erfahrung aus den vorherigen Versionen und aus weiteren Rollenspielprojekten der einzelnen Autoren auf und konzentrierte die Ideen zu einem stimmigen Konzept, das auch nach Außen einen Neuanfang symbolisierte.
So lässt Degenesis das hoffnungslose Endzeitszenario fallen und kreiert ein fast völlig eigenständiges Genre, dass die Macher „Primal Punk“ tauften. Es beschreibt eine Welt im Neuaufbruch nach einer Katastrophe, nach einer Endzeit. Es gibt neue Chancen, neue Gefahren, aber auch das Festhalten an überlieferten Strukturen. Dazu spielt noch der Einfluss einer höheren Gewalt, ein fast kosmologischer externer Einfluss eine Rolle, der neben den Konflikten um Expansion und Überleben auch einen grundsätzlichen Aspekt der Veränderung einbringt. Ein komplexes Setting erwartet die Spieler, die vor diesem Hintergrund durch Heldentaten glänzen können und immer wieder spannende Begegnungen erleben können.
Die Autoren legen viel Wert auf Plausibilität. Pseudowissenschaftliche und logisch erscheinende Erklärungen erleichtern den Spielern das Einleben in eine fantastische Umgebung und regen das Verständnis für teilweise extreme Figuren und Kulturen an. Denn diese sind die Basis für die Charaktere, die von Spielern und Spielleiter dargestellt werden sollen. „Degenesis“ ist kein Spiel für gedankenloses Dungeon Crawling und wer denkt, dass er ungestraft ballernd durch die Welt rennen kann, der sollte sich ein anderes Spiel suchen. Verhandlungsgeschick, intelligente soziale Interaktion in extremen Situationen und taktische Klugheit im Gefecht sind die Herausforderungen für die Spieler. Der besondere Reiz liegt sicherlich in der Erforschung der Hintergrundwelt und in den exotischen Charakteren, die zwar überwiegend menschlich sind, jedoch weit von unserer Realität entfernt.
Dabei macht es die Charakterschaffung den Spielern sehr leicht, sich in eine Rolle hineinzufinden. Schätzungsweise dauert die Einrichtung einer Spielfigur zwischen 20-30 Minuten für entscheidungsfreudige Spieler. Notorische Munchkins werden jedoch etliche Stunden benötigen, um die wirkungsvollste Kombination aus den „3Ks“ zu ziehen. Jene bestimmen die Charaktereigenschaften bis hin zur persönlichen Historie. Mit nur fünf Attributen gehört „Degenesis“ eher zu den Leichtgewichten. Diese werden in einem simplen Punkteverteilsystem erstellt, wobei der Wert Null ausgeschlossen wird. Danach bestimmt man die Kultur (K1) und erhält dadurch Attributsboni bis einen Gesamtwert von maximal 10. Auf bestimmte, in der Kultur vorhandene Fertigkeiten können nun Punkte vergeben werden. Im zweiten „K“, dem Konzept, geht es um die Jugend und die damit verbundenen Erfahrungen. Hier sucht sich der Spieler die Historie seines Charakters aus und bewertet entsprechende Fertigkeiten mit Punkten. Schließlich kommt noch der Kult (K3) zum Tragen, der den Charakter in eine Organisation, Glaubensgemeinschaft oder Familienbande einbindet. Auch diese bringen Kenntnisse mit sich. Für jedes „K“ wählt man sich ein so genanntes „Prinzip“, das dazu passen muss und persönliche Wesenszüge bestimmt. Folgt ein Spieler diesem, so wird er durch Erfahrungspunkte belohnt.
Rollenspielsysteme leben und sterben mit ihrem Würfelsystem. „Degenesis“ hat nach der fälligen Überarbeitung ein durchgehendes System von gleichzeitigem Unter- und Überwürfeln. Dabei wird die durch mindenstens zwei zehnseitige Würfel entstandene glockenförmige Wahrscheinlichkeitskurve in den Extremen abgeschnitten. Das untere Ende wird durch die Erschwernis (Modifikator) definiert, das obere durch die Fertigkeit (Attribut + Kenntnis). Das Prinzip hat seine Schwächen, wenn der zu unterwürfelnde Wert unter die Spitze der Glocke fällt. Doch der Vorteil des extrem einfach zu handhabende Spielmechanismus überwiegt. Das gilt auch für manche Verfahren im Regelwerk, die in das Würfelprinzip hineingepresst wirken (beispielsweise der Schaden). Auch dort hat die Vereinfachung ihren Charme, selbst wenn es den Spielern von Maximal- und Extremcharakteren die Tore weit öffnet.
Der Kampf wird durch Initiative, Angriffs- und Schadenswurf bestimmt. Eine für sich stehende Abwehr gibt es nicht. Schilde werden zwar als „africanischer Ovalschild“ genannt und machen sich hübsch in der Illustration, spielen aber im Regelwerk offiziell keine Rolle. Sie lassen sich aber als Erschwernis einfach integrieren. Das an und für sich einfache Prinzip (bekannt aus einer Vielzahl von Rollenspielen) lässt sich bei so genannten Regelanwälten (Spieler mit Diskussionsbedürfnis) jedoch nur schwer anwenden. Hier ist man für die oberste Regelung dankbar, dass der Spielleiter schlichtweg alles bestimmen darf.
Auf magische Zauberformeln habe die Autoren bewusst und willentlich verzichtet. Der damit assoziierte Fantasy-Touch sollte das Buch nicht belasten. Zwar wird es mit den folgenden Quellenbänden regelmäßig etwas mystischer. Doch die psychischen Effekte sind mit der typischen Zauberei aus den Swor-and-Sorcery-Rollenspielen nicht vergleichbar.
Auch wenn diese Rezension aus zeitlichen Gründen vor den persönlichen Spieltests veröffentlicht wird, kann ich das Urteil wagen, dass „Degenesis“ nicht nur ein optischer Genuss ist, sondern eine einfallsreich und gut beschriebene Welt, die mit einem verständlich geschriebenen System betreten werden kann. Das Einstiegsabenteuer im Grundregelwerk ist dazu eine Möglichkeit. Die in der Zeitschrift „Mephisto“ schon vorveröffentlichen Szenarien stellen weitere Tore in die Welt des „Primal Punk“ dar.
Das Regelwerk hat nun in der Überarbeitung einen gut spielbaren Status erreicht, zwar finden sich noch die einen oder anderen Vertipper und Lektoratsfehler (beispielsweise stimmen Waffendaten in einem Beispiel nicht mit den gelisteten Werten überein), aber das sind Kleinigkeiten, die sich nicht spielbehindernd auswirken.
Fazit: „Degenesis“ ist ein Spielsystem für Spielleiter und Spieler, die bereit sind sich auf einen großartigen Hintergrund einzulassen und darin Geschichten zu erleben. Hier geht es nicht um Charaktersteigerung und Belohnung, sondern um Storytelling. Wer Geschmack an „Primal Punk“ findet, und bereit ist, in eine völlig bizarre, nicht ganz jugendfreie Welt einzutauchen, der sollte sich von niemanden abhalten lassen.
Diese Rezension erschien ursprünglich bei www.x-zine.de.
Degenesis v2
Grundregelwerk
Christian Günther, Marko Djurdjevic, Tim Struck, Malte Belz u.a.
Sighpress 2004
ISBN: ???
384 S., Hardcover, deutsch
Preis: EUR 37,95
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