Das grausame Reich Tsan Chan

In der Erzählung „Der Schatten aus der Zeit“ deutete H. P. Lovecraft an, was in einer weit entfernten Zukunft auf die Erde zukommen wird: Im Jahre 5.000 ist die Erde eine vom kosmischen Grauen überflutete Hölle, und die letzten zivilisierten Menschen leben hinter den Schutzmauern des Reiches Tsan Chan. Der Quellen- und Abenteuerband „Das grausame Reich Tsan Chan“ beleuchtet diesen dystopischen Flecken Erde und macht ihn für „Cthulhu“-Runden spielbar.

von Oliver Adam

Ursprünglich erschien „The Cruel Empire of Tsan Chan“ als semi-professionelle Publikation bei Chaosium als sogenannter „Monograph“. Pegasus hat diesen Quelltext inhaltlich überarbeitet und um ein eigenes Abenteuer ergänzt. Der edle, 150 Seiten starke „Cthulhu“-Hardcover-Band macht mit einer vollfarbigen Gestaltung, eindrucksvollem Karten- und Handoutmaterial sowie einem roten Lesebändchen einiges her und äußerlich erinnert nichts mehr an dessen Ursprung als Fanwork.

Rund die Hälfte des Bandes ist der Beschreibung des Settings und der dazugehörigen Regeln vorbehalten. Das erste Kapitel „Die zukünftige Geschichte“ geht auf die Ereignisse ein, die zu der Entstehung des Reiches geführt haben. Cthulhu und die anderen Wesenheiten des Mythos sind erwacht und haben die Menschheit in den Wahnsinn getrieben oder versklavt. Nur die Bewohner der Hochebene von Leng konnten sich gegen den Einfluss wehren und haben im zentralen China ein Konklave geschaffen, die durch Magie, außerirdische Technik und eine gewaltige Armee gesichert wird. Dabei haben sie verschiedene Pakte mit Mythoswesen wie Schlangenmenschen, Ghoulen und Älteren Wesen geschmiedet, die ihnen Schutz bieten.

Der Hintergrund ist mit sehr viel Liebe zum Detail aufgebaut. Gleichzeitig drängt sich allerdings der Eindruck auf, dass das Setting zu überladen ist. Zahlreiche Mythosgottheiten und Wesen werden mit kaum nachvollziehbaren Motiven in die Historie von Tsan Chan eingeflochten und es gibt ein ständiges Hin und Her der Allianzen. Die ganze Vorgeschichte und Erklärungen lesen sich eher wie der Versuch, unbedingt möglichst viele coole, menschenfressende Monster unterzubringen, als etwas, das sinnig und konsistent hergeleitet wurde.

Im darauffolgenden Kapitel „Der Weg“ geht es um die Gesellschaftsstruktur des Reiches, an deren Spitze die Imperatorin, ein Hybrid aus Mensch und Gottheit, steht, die zu einer kolossalen Größe aufgebläht ist. Eunuchen, die Angehörigen der Adelshäuser und die Todlosen (die eigentlichen Gründer des Reiches) ringen um Macht und Einfluss, während das Militär für die Sicherung der Grenzen sorgt und die „Traumlosen“ alle Arbeiten verrichten.

Die ersten Jahre des Reiches Tsan Chan waren ein Rückfall in primitive Zeiten und eine Art Techno-Barbarei. Viel technologisches Wissen wurde verloren und durch unkonventionelle Wissenschaften ersetzt. Das Kapitel „Nichtmenschliche Technologie“ verdeutlicht die neuen Technologien der Älteren Wesen und magischen Konstrukte der Schlangenwesen. Dabei werden die Artefakte nur angerissen, ohne explizite Regeln einzuführen. Ein spannendes Kapitel, das auch Ansätze für die traditionellen „Cthulhu“-Hintergründe liefert.

Über die Grenzen des Reiches hinaus geht es in „Die Außenwelt“. Tsan Chan unterhält Außenposten beispielsweise in der Antarktis oder in Kairo, die in diesem Kapitel ebenso vorgestellt werden, wie die im Mythos ertrunkenen Örtlichkeiten. Besonders beeindruckend hierbei die Hauptstadt der Schoggothen „Schoggothim“, die selbst eine wachsende Lebensform ist.

„Die Spieler“ widmet sich der Erschaffung der Charaktere und den Besonderheiten des Settings. Hier gibt es natürlich auch spezifische Archetypen und Berufe. Zusätzlich wird die neue Eigenschaft „Der Weg“ eingeführt – eine Art Philosophie oder Doktrin. Ähnlich wie geistige Stabilität verringert sich der Wert durch traumatische Ereignisse.

Regeltechnisch ist man damit gut ausgestattet, um im letzten Kapitel „Kampagnen“ nun die richtigen Abenteuer in der neuen Welt von Tsan Chan in Angriff zu nehmen. Zahlreiche Abenteuerideen und Kampagnenansätze werden dem Spielleiter vorgestellt, die in verschiedene Kategorien wie Reisen, Krieg oder Ermittlungen sortiert sind. Dabei reichen die Ideen von „wenig erfrischend“ bis zu „spannend“. Die teilweise sehr guten Ansätze haben jedoch das Manko, über nur wenige Zeilen vorgestellt zu werden, sodass die Storys kaum Platz haben, um sich zu entfalten. Der Spielleiter wird mit diesen kurzen Ansätzen allein gelassen und wird sich nach der Lektüre zurecht fragen, wie man den Spielern diese Abenteuer in der unbekannten dystopischen Welt von Tsan Chan nun näherbringen kann.

Leider stören beim Lesen des Quellenteils immer wieder etwas unrunde Übersetzungen und ein geringer Bildanteil führt zu überfrachteten und etwas schwer lesbaren Textblöcken.

Die zweite Hälfte des Bandes nimmt das umfangreiche Abenteuer „Stillwater Rapids“ ein, das eine deutsches Originalabenteuer ist. Da das Kapitel „Kampagnen“ dem Spielleiter nur oberflächlichen Informationen zum Aufbau von Abenteuern in dieser fremden Welt lieferte, war meine Erwartungshaltung an dieses extra für diesen Band verfasste Abenteuer besonders hoch: Es sollte die Stärken und Stimmungen des Setting hervorheben und zeigen, wie ein Abenteuer die cthuloide Fremdartigkeit von Tsan Chan einfangen kann. Sehr groß war dann meine Überraschung, dass „Stillwater Rapids“ weder in Tsan Chan spielt, noch im Jahre 5.000.

„Stillwater Rapids“ wirft vorgefertigte Investigatoren mit unterschiedlichen Wissensständen in eine kleine amerikanische Stadt, aus der niemand jemals wegzieht oder verreist und merkwürdige Menschen unentwegt provozierende Fragen stellen, um die Loyalität der Anwohner zu überprüfen. Das sehr offen gestaltete Abenteuer verfügt über anspruchsvolle Schauplätze, spannende Gegenspieler und einen straffen Zeitplan und erinnert in einigen Phasen sehr an „1984“, „Schöne Neue Welt“ oder „Westworld“ (ohne Western). Nur mit Tsan Chan im Jahre 5.000 hat das alles wenig zu tun. Eine etwas wirre und seltsame Hintergrundgeschichte, die von den Investigatoren kaum aufgedeckt werden kann, spannt einen kruden Bogen zum Reich Tsan Chan. Am Ende des Abenteuers kann vielleicht einer der Investigatoren tatsächlich über eine Zeitreise dorthin gelangen. Auch wenn das Abenteuer gute Strecken hat und an einem anderen Publikationsort durchaus zu gefallen wüsste, wirkt es in einem Band zu Tsan Chan völlig deplatziert.

Fazit: „Das grausame Reich Tsan Chan“ bietet einen neuartigen Hintergrund in einer dystopischen Region nach dem Erwachen der Großen Alten. Allerdings ist das Setting mit zahlreichen Mythosgottheiten, menschenfressenden Monstern und ein ständiges Hin und Her der außerweltlichen Allianzen unnötig überfrachtet und vollgestopft. Zudem werden dem Spielleiter wenige Hilfsmittel an die Hand gegeben, den Spielern Abenteuer in der unbekannten Welt von Tsan Chan näherzubringen. Das enthaltene Abenteuer „Stillwater Rapids“ kann dieses Manko nicht auffangen, da es nur beiläufig und aufgesetzt mit Tsan Chan verbunden ist und daher in diesem Band deplatziert wirkt.

Das grausame Reich Tsan Chan
Quellenband
Christian Reid, Christoph Becke
Pegasus Press 2020
EAN: 978-3-95789-353-6
148 S., Hardcover, deutsch
Preis: 19,95 Euro

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