von Tobias Dworschak
Das Rezensionsexemplar liegt schon eine ganze Weile auf meinem Tablet-PC. Der schiere Umfang ließ mich zögern, die Besprechung zu verfassen, denn wie soll ich dem Werk gerecht werden, ohne dabei eine undurchdringliche Textwand zu erzeugen? Jetzt nähern sich meine Spieler langsam dem Ende der Kampagne. Dies ist ein guter Zeitpunkt für mich, den Blick zurück zu wenden und mich dem Erwachen der Runenherrscher selbst zu widmen. Und ich habe mich entschieden, dies in erster Linie anhand der gesammelten Erfahrungen zu tun und weniger, indem ich mich an den Kapiteln entlanghangle.
Nachdem Paizo 2007 von Wizards oft the Coast die Lizenz für die beiden hervorragenden Magazine „Dungeon“ und „Dragon“ nicht verlängert wurde, stand das Unternehmen vor der Frage, wie es nun weitergeht. Die Fan-Basis war da, mit „The Shackled City“ und „Age of Worms“ hatten sie bereits die ersten Abenteuerpfade erfolgreich veröffentlicht. „D&D 3.5“ stand unter der weiten Open Licence. Also entschied man sich in Redmond, das Konzept der Abenteuerpfade in einem eigenen Setting – Golarion – fortzuführen. „Burnt Offerings“ („Brandopfer“) war seinerzeit das erste Werk, das Paizo unter der Marke „Pathfinder“ veröffentlichte. Und ohne übertreiben zu wollen, schrieben sie damit wohl Geschichte. Die ursprüngliche Idee – jeden Monat ein Abenteuer, das sich über sechs Monate zu einer Kampagne fügt, garniert mit ergänzenden Artikeln zu Orten, Ereignissen oder Kreaturen – ist nach wie vor lebendig.
Zum 5-jährigen Jubiläum hat Paizo den ersten Abenteuerpfad als gesammeltes Werk und angepasst an die inzwischen veröffentlichten „Pathfinder“-Regeln neu aufgelegt. Dabei wurden die ursprünglichen Abenteuer ein wenig verändert und angepasst. Dem Sammelband fehlen einige zusätzliche Artikel, insbesondere diejenigen, die mit den Abenteuern selbst nichts zu tun haben (Beschreibungen von Göttern, die Kurzgeschichte usw.).
Das PDF selbst umfasst 434 Seiten – und zwingt manchmal meinen Tablet-PC an den Rand der Aufgabe. Vielleicht wäre hier eine Version, in denen die einzelnen Kapitel einzeln geöffnet werden können, hilfreich gewesen. Grob gliedert sich der Band in die sechs Kapitel der einzelnen Teile des Abenteuerpfades plus diverse Anhänge.
Das Layout entspricht der von Ulisses gewohnt hohen Qualität. Im Vergleich zu den Originalen wurde die graphische Gestaltung komplett überarbeitet und einige Zeichnungen neu gestaltet. Dies spiegelt den Umstand wider, dass „Pathfinder“ zu Beginn einen anderen graphischen Kontext haben sollte – von dem Paizo sich bald zugunsten einer eher klassischen und weniger mangaesken Darstellung verabschiedete. Das Buch wirkt wie aus einem Guss. Natürlich gibt es insbesondere mit den Monsterhandbüchern heute mehr Material, auf das man verweisen kann, was die Werte-Blöcke und den Textfluss entlastet, gleichzeitig aber dazu führt, dass man immer noch ein paar mehr Bücher bereit halten muss. Darüber hinaus sind Informationen übersichtlich gesammelt und zusammengestellt. Im Abenteuer kommen einige Handouts vor (die ich bei Paizo und Ulisses inzwischen vermisse), die gut gestaltet und hervorgehoben sind. Insgesamt ein überzeugender Anblick.
Leider haben sich in die deutsche Version allerhand Fehler eingeschlichen. Diese betreffen nicht in erster Linie die Übersetzung (die lässt sich meist flüssig lesen – wobei auffallend viele Rechtschreibfehler vorhanden sind), sondern vor allem die Karten. Hier werden ganze Gewölbekomplexe durch einen veränderten Maßstab plötzlich in der Größe halbiert oder verdoppelt. In einem Handout fehlt eine wichtige Information (die im englischen Original vorhanden ist!). Solcherlei Dinge finden sich noch mehr. Ich weiß nicht, ob es inzwischen eine aktualisierte Version gibt, die diese Fehler beseitigt; ich war während des Spielens hiervon jedoch geradezu entsetzt. Hier wäre eine sorgfältigere Kontrolle angebracht gewesen (zumal die Fehler unmittelbare Auswirkungen auf das Spiel haben).
Noch ein Punkt, den Ulisses und Paizo inzwischen aber besser machen: Der Titel des Abenteuerpfades. Meines Erachtens verrät dieser zu viel von der Handlung beziehungsweise davon, worum es letztendlich geht. Bei meinen Spielern hat das bisweilen zu Schlussfolgerungen geführt, die die Charaktere so nicht hätten ziehen können.
Und da wir schon bei der Handlung sind: Ich hatte mir die Bezüge der einzelnen Teile zueinander deutlicher vorgestellt. Als Spielleiter und Leser habe ich zu Beginn die Übersicht, wie alles miteinander zusammenhängt. Diese Geschichte entfaltet sich aber vor den Spielern zu spät und nur zäh. Die ersten drei Teile des Abenteuerpfades haben nur sehr indirekte Bezüge zu der Geschichte, die hier erzählt werden soll. Sie bilden – doch dazu später mehr – in sich stimmungsvolle und spannende Abenteuer. Sie werfen aber nur wenige Schatten auf das, was kommt. Die Andeutungen auf das Große und Ganze sind so subtil, dass sie auch umsichtigen Spielern entgehen. Sie bleiben nicht haften, sodass es nach einem Jahr Spielzeit schwerfällt, sich an Einzelheiten aus dem ersten oder zweiten Teil zu erinnern.
Ich habe den Eindruck, dass dieser Umstand in aktuellen Abenteuerpfaden besser gelöst ist. Hier nimmt die Geschichte meistens spätestens im zweiten Teil Fahrt auf. Beim „Erwachen der Runenherrscher“ dauert mir das alles zu lange. Apropos zu lange: Das Abenteuer ist sehr schnell. Mit Pausen und Ausflügen in die Charaktergeschichten ist bei uns vielleicht ein halbes Jahr Zeit in der Spielwelt vergangen. Richtig Zeit zum Erholen oder zwischen den einzelnen Abenteuern ist kaum vorgesehen. Ereignisse aus den Teilen bedingen sich und gleichzeitig fehlt auch mir als Spielleiter jedes Gefühl dafür, wie dringlich nun die Mission der Charaktere ist. Ein Runenherrscher droht zu erwachen – aber wann? Können wir ein Jahr warten? Oder ist es nächste Woche soweit? Im Grunde steht es jeder Gruppe frei, den Countdown selbst zu setzen, aber hierbei fehlen mir dann Vorgaben, wie sich die einzelnen Fäden entwickeln, was die Gegner tun.
Gleichzeitig fehlt den Charakteren oftmals die Freiheit, eigene Entscheidungen zu treffen. Ich habe in meiner Gruppe erlebt, dass sie zwar dem vorgegebenen Pfad folgt, aber nicht weiß, warum sie das tut. Und das lag nicht in erster Linie an meinen Mitspielern.
Soviel zur Vorrede. Der Blick auf die einzelnen Abenteuer wird nicht ganz so ausführlich. Spoiler lassen sich in den kommenden sechs Absätzen gleichwohl nicht vermeiden. Die Autoren der Abenteuer sind namhafte Größen der Branche (was nicht zwangsläufig etwas über die Qualität aussagt): James Jacobs, Richard Pett, Nicolas Logue, Wolfgang Baur, Stephen S. Greer und Greg A. Vaughan.
Die Geschichte in wenigen Worten: Karzoug, letzter Runenherrscher der Gier im alten Thassilon, erwacht nach 10.000 Jahren aus seinem Schlaf, in den er sich zum Schutz vor dem Erdenfall begeben hatte. Er strebt danach, seine alte Macht wiederzuerlangen, um seinen rechtmäßigen Platz als Herrscher einzunehmen. Hierzu bedient er sich einer Reihe mehr oder minder williger Diener und Helfer. Es ist die Aufgabe der Charaktere, die Rückkehr Karzougs zu verhindern.
Die Geschichte beginnt in dem beschaulichen Küstenörtchen Sandspitze, wo anlässlich der Einweihung einer neuen Kathedrale das Schwalbenschwanzfestival stattfindet – einschließlich eines Angriffs wilder Goblins am Höhepunkt des Festes. Das Abenteuer beschreibt in hervorragender Weise die Besonderheiten der wahnsinnigen „Pathfinder“-Goblins und der Kampf um die Stadt, aus dem die Charaktere als Helden hervorgehen, macht richtig Spaß. Die Goblins bleiben die treibende Kraft des Abenteuers, der die Charaktere weiterführt in eine Ruine unter Sandspitze und schließlich nach Thistletop, die Heimat der Goblins. Dort stellen die Charaktere auch die Anführerin und kommen zum ersten Mal mit dem siebenzackigen Stern, dem Sihedron in Kontakt. Das Abenteuer „Brandopfer“ ist ein wundervolles Einstiegsabenteuer mit viel Liebe zum Detail und der Grundsteinlegung sowohl für Sandspitze (das im weiteren Verlauf der Geschichte wiederholt eine Rolle spielt) als auch für diverse NSC, die den Charakteren wieder begegnen.
Der zweite Teil beginnt als Detektivabenteuer um rätselhafte Morde, wobei die Motive (und damit der Bezug zur Kampagne) wesentlich im Dunkeln bleiben. Das Highlight des Abenteuers ist sicherlich ein altes Anwesen, ein stilechtes Geisterhaus, in dem Paizo seinerzeit die Spuke (?) eingeführt hat; eine Art geisterhafter Fallen. Das Geisterhaus ist atmosphärisch dicht, ohne dass es hier körperliche Auseinandersetzungen gibt. Das Abenteuer endet in Magnimar und führt die Charaktere erstmals in eine größere Stadt. Auf den Spuren eines Norgorber-Kultes und seiner Hintermänner geht es schließlich auf die Spitze eines alten Turmes. Dort finden die Charaktere – neben einem damals wirklich heftigen, heute entschärften Kampf – Hinweise, die grob in das nächste Abenteuer führen.
„Massaker am Großen Haken“ ist, um es mit wenigen Worten zu sagen, schwach. Die Verknüpfung zu den vorhergehenden Abenteuern ist sehr konstruiert. Immerhin verlassen die Charaktere die bekannten Gefilde und reisen nach Schildkrötenfähre (wo es kaum etwas zu tun gibt) und nach Fort Rannick, einem Grenzposten, von dem die Dorfbewohner lange nichts gehört haben. Oger haben das Fort überrannt und die Schwarzen Pfeile (die Mannschaft) weitestgehend getötet. Nach der Befreiung des Forts tragen die Charaktere den Kampf zur Wurzel des Übels, einer Ogerhöhle oben am Großen Haken. Nachdem der Kopf hinter dem Angriff auf Fort Rannick besiegt wurde, erfahren die Charaktere, dass ein Angriff auf Sandspitze unmittelbar bevorsteht.
Unmittelbar heißt in dem Fall, solange die Spieler für den Rückweg brauchen. In „Die Festung der Steinriesen“ geht es also zunächst darum, Sandspitze zu verteidigen (wobei nicht so richtig klar wird, warum die Stadt angegriffen wird). Nachdem die Riesen, die außerdem Unterstützung durch einen Drachen haben, in einem wirklich gelungenen Kampf besiegt wurden, reisen die Charaktere zu deren Stützpunkt, um eine bevorstehende Invasion der Riesen in Varisia zu unterbinden (und erneut wird nicht so richtig klar, warum die Charaktere das tun sollten). In Jorgenfaust, dem Stützpunkt der Riesen, folgt ein großer Dungeon, in dem endlich (wir sind in Teil vier!) Karzoug mal eine Rolle spielt. Die Aufgabe der Charaktere ist es, den Anführer der Riesen zu töten, damit die – eigentlich friedfertigen – Steinriesen sich zerstreuen können. Der Dungeon ist eine wilde Ansammlung unterschiedlicher Gegner, was alles arg zusammengewürfelt wirkt. Etwas mehr Konsistenz hätte hier gut getan.
Nach dem Sieg über den Anführer der Steinriesen öffnet sich in Sandspitze ein Erdloch, aus dem merkwürdiges Geheul kommt und in dem eine Truppe der Stadtwache verschwindet. Die Charaktere kehren also zurück, nur um weiter vorangetrieben zu werden. Sie haben eine grobe Idee, was die Riesen in Sandspitze wollten und treffen ganz zufällig in dem Gewölbe, das sich durch den Erdstoß unter dem bereits bekannten Gewölbe geöffnet hat, eine der wenigen Personen die wissen, wo sich die Runenschmiede befindet. Ohne eine konkrete Vorstellung davon, was sie dort tun sollen (irgendetwas finden, um Karzoug aufzuhalten) machen sich die Charaktere auf den Weg, um den Eingang zu finden. Die Runenschmiede selbst ist der zentrale Punkt in „Die Sünden der Retter“; und eine sehr große Herausforderung, die den Charakteren alles abverlangt; zumal sie nicht ohne Weiteres Vorräte auffrischen können. Am Ende sollten die Charaktere runengeschmiedete Waffen besitzen (wobei es keineswegs trivial ist, diese zu bekommen), um dann im finalen Teil der Kampagne nach Xin’Shalast zu reisen und in der ehemaligen Hauptstadt Karzougs den Runenherrscher zu vertreiben.
Die Abenteuer machen eine Menge richtig – einzeln betrachtet erzählen sie eine spannende Geschichte und präsentieren gelungene NSC, die wiederholt auftauchen und so eine starke Bindung aufbauen. Es gibt eine Vielzahl von Dungeons zu erkunden, die von wechselnder Qualität sind und unterschiedliche Herausforderungen an die Spieler und den Spielleiter stellen. Die Abenteuer sind überwiegend kampflastig, überzeugen aber in der bunten Zusammenstellung von Gegnertypen nur selten. Manchmal gibt es dafür durchaus berechtigte Hintergründe, dann wieder scheint es mehr um die Begegnung an sich zu gehen. Auffallend ist die Liebe zum Detail, die die Autoren an vielen Stellen investiert haben – so gelingt es, nicht nur die Abenteuer, sondern auch die Geschichte Thassilons lebendig werden zu lassen.
Die Anhänge fassen alles zusammen, was zum Spielen des Abenteuerpfades notwendig ist. Hier offenbart sich die größte Schwäche der riesigen PDF-Datei, denn „mal eben“ nach hinten zu blättern ist nicht so leicht und dauert, zumal das PDF ohne Lesezeichen kommt und man häufig die richtige Seite raten muss.
Es finden sich Beschreibungen von Sandspitze (die sehr gut gelungen sind und der kleinen Stadt Leben einhauchten), eine kurze Einführung in die umliegenden Ländereien (mit einer zu kleinen Karte), ein paar Worte zu Magnimar (hier empfehle ich zur Ergänzung den Almanach, da gerade das zweite Abenteuer zu einem großen Teil in dieser schillernden Stadt spielt), ein bisschen was zu Schildkrötenfähre und Xin’shalast. Natürlich fehlen die neuen magischen Gegenstände nicht, ebenso wenig neue Monster und einige Regeln, zum Beispiel über die Auswirkungen der „Sünden“ der Charaktere. Wegen des Umfangs des Buches sind nicht immer alle benötigten Informationen schnell zu finden und manches habe ich wiederholt vergeblich gesucht (zum Beispiel, wie lange die Reise von Sandspitze nach Magnimar dauert). Schließlich gibt es noch den Artikel zu der Frage, wie die Kampagne weitergehen kann.
Fazit: „Das Erwachen der Runenherrscher“ ist wahrlich eines – eine legendäre Kampagne. Und als solche kann ich jedem „Pathfinder“-Spieler nur ans Herz legen, sie einmal zu spielen. Sie ist auch heute noch eine hervorragende Einführung in das, was „Pathfinder“ ausmacht. Die vorliegende Version ist zeitgemäß überarbeitet und bietet langanhaltenden Spielspaß. Die Fehler in der deutschen Version trüben den positiven Gesamteindruck. Ebenso die Summe der Kleinigkeiten in Spannungsaufbau, Zeitablauf und innerer Logik. Ich glaube, am Ende bleibt aber eher das epische Gefühl, einen Runenherrscher besiegt zu haben als die Erinnerung an diese Faktoren. Das Erwachen der Runenherrscher macht vieles richtig – und vor allem richtig viel Spaß.
Wer mit dem Gedanken spielt, „Das Erwachen der Runenherrscher“ zu kaufen, sollte der besseren Übersichtlichkeit halber zu der Papier-Version greifen und sich informieren, wie Ulisses inzwischen die Fehler in den Karten und Handouts gelöst hat.
Das Erwachen der Runenherrscher
Abenteuerpfad
Richard Pett
Ulisses Spiele 2013
ISBN: 978-3-86889-285-7
420 S., Hardcover, deutsch
Preis: EUR 59,95
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