Chicago

Mit „World of Darkness: Chicago“ kehrt eines der ältesten Settings der alten Welt der Dunkelheit (damals als „Chicago by Night“ für „Maskerade“ erschienen) im neuen Gewand und für ein neues Spielsystem zurück. Und gleichzeitig ist es das erste Buch dieser Art, welches die drei Systeme „Vampire“, „Werwolf“ und „Magus“ in einem Band vereint.

von Christian Beier

 

Gleich, wenn man das Buch in die Hand nimmt, wird klar: Dies ist ein Mammutprojekt. Mit mehr als 400 Seiten ist das Buch umfangreicher als die meisten Grundregelwerke. Andererseits gilt es ja auch, viel Material abzudecken. Die Stadt Chicago will genauso beschrieben werden, wie die zahlreichen übernatürlichen Machtgruppen, welche verborgen vor den Augen der Menschen dort existieren.

Das Cover ist stimmig und artistisch ansprechend; der brennende Schriftzug Chicago prangt über drei Figuren der einzelnen übernatürlichen Wesen der Welt der Dunkelheit. Auch wenn Tim Bradstreets Artwork durchaus hochwertig ist, so erinnert es doch stark an den Gothic-Punk-Stil der alten Welt der Dunkelheit (was wahrscheinlich damit zusammenhängt, dass er einen Großteil der Illustrationen für die Zweite Edition der „Maskerade“ beisteuerte) und wirkt daher etwas ungewohnt, da ich die neue Welt der Dunkelheit bisher nicht mit Gothic-Punk in Verbindung brachte (und das auch gerne in Zukunft vermeiden würde). Die Innenillustrationen sind durchweg hochwertig und stimmig, auch wenn auch hier das altbekannte Layoutproblem zutage tritt, dass die Bilder einen Teil des Textes verdecken.  
Doch nun zum Inhalt. Kann die Qualität mit der Quantität mithalten?

Nach einer hervorragenden und sehr spannenden Kurzgeschichte (auch die zwischen den Kapiteln eingefügten Geschichtsfetzen sind sehr gut) wird schnell die besondere Stimmung des Buches und der Stadt Chicago umrissen.

Danach folgt eine kurze Einführung in die Geschichte Chicagos: von den Indianerstämmen, die vor seiner Gründung in diesem Gebiet siedelten, bis hin in die Gegenwart. Dabei werden gekonnt historische Fakten, Gerüchte und Legenden sowie wilde Verschwörungstheorien miteinander vermischt, um eine interessante (und recht authentisch wirkende), blutige Vergangenheit dieser Stadt erzeugt. Eine Beschreibung der einzelnen Viertel der Stadt nimmt die andere Hälfte dieses Kapitels ein. Auch hier wird ein klarer Eindruck vermittelt, was man in diesen Vierteln zu erwarten hat (besonders, wenn man in der „WoD“ unter die Oberfläche blickt) und was für eine Stimmung Charakteren entgegenschlägt, welche sich bei Nacht in diese Gegenden trauen. Einige modernere Urbane Legenden werden locker in dieses Kapitel eingestreut, ohne deren Stimmung durch eine Erklärung ihrer Verursacher zu zerstören.

Überhaupt ist das ganze Buch so aufgebaut, dass keine konkreten Fakten über die Vorgänge in Chicago gegeben werden. Nicht einmal im Kapitel über die Übernatürlichen. Es werden zwar einige Alternativen angerissen, was dies alles bedeuten könnte, jedoch wird nicht eine Möglichkeit als die „richtige“ präsentiert. Das lässt der Phantasie viel Spielraum und erlaubt es auch einer Person, welche das Buch bereits gelesen hat, Chicago als Spieler zu erleben, ohne über alle Vorgänge Bescheid zu wissen, allerdings bedeutet es auch mehr Arbeit für den Erzähler, der sich einige Hintergründe selbst ausdenken muss.

Alle Teile des Buches, die sich auf Chicagos übernatürliche Wesen beziehen (der Hauptteil des Buches), sind in jeweils drei Kapitel aufgeteilt. Das erste Kapitel gibt einen Überblick über die generelle Situation der jeweiligen Spezies in Chicago, welche Machtblöcke es gibt und wie sie sich auf die einzelnen Gebiete verteilen. Außerdem wird darauf eingegangen, was Neuankömmlinge beachten sollten und wie die etablierten Fraktionen auf sie reagieren. Im zweiten Kapitel werden die wichtigsten NSCs des Settings vorgestellt, komplett mit einer kurzen Beschreibung und einer Auflistung ihrer Spielwerte. Das dritte Kapitel schließlich ist ein kurzes Abenteuer, welches die Charaktere in die Geschehnisse in Chicago verwickelt.

Die ersten Kapitel sind durchweg stimmig und gut geschrieben, allerdings stellenweise etwas verwirrend, da teilweise auf Dinge Bezug genommen wird, welche erst im zweiten Kapitel behandelt werden und damit eine chronologische Lektüre des Buches unmöglich machen. Außerdem wäre es wünschenswert gewesen, eine kurze Auflistung der vorgestellten Klüngel/Rudel/Kabalas von Chicago und ihrer Beziehungen zueinander zu geben, um sich lästiges Blättern zu ersparen. Von diesem Kritikpunkt einmal abgesehen, sind diese Kapitel makellos.

Bei den NSCs der zweiten Kapitel findet sich die eine oder andere nette Idee, aber generell sind deren Beschreibungen zu kurz und lassen sich meist auf ein einfaches Gimmick reduzieren (z. B.: eine Uratha, deren Beschreibung darauf reduziert wird, dass Wasser in ihrem Leben eine besondere Rolle spielt – das war’s: von Persönlichkeit und Motivation keine Spur. Und das ist nicht der einzige Charakter dieser Art.) Es drängt sich mir auch der Eindruck auf, dass den Werten der NSCs übermäßig viel Platz eingeräumt wurde, der besser mit stimmigen Beschreibungen gefüllt worden wäre (zumal sich die Werte in wirklich kurzer Zeit improvisieren lassen).

Die vorgegebenen Einstiegsabenteuer sind allesamt recht interessant und stimmig. Allerdings kommt mir das Vampir-Abenteuer etwas überladen vor und dürfte Anfangscharaktere möglicherweise etwas überfordern.

Fazit: „Chicago“ ist eine Fundgrube von großartigen Ideen und Materialien über die gleichnamige Stadt. Allerdings sollte der Erzähler darauf vorbereitet sein, etwas Arbeit zu investieren (besonders bei den NSCs), damit die Spieler Abenteuer in Chicago auch genießen können. Wer also seine Abenteuer lieber vorgekaut mag, der ist mit diesem Buch schlecht beraten. Alle anderen werden hierin die Materialien für zahlreiche abwechslungsreiche Chroniken oder One-Shots finden.


World of Darkness: Chicago
Quellenband
Jackie Cassada, Kraig Blackwelder, Tom Dowd
White Wolf 2005
ISBN: 1588464792
422 S., Hardcover, englisch
Preis: $ 39,99

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