von LarsB
Konfliktscheue Geister können direkt aufhören zu lesen. In „Harrow County“, (auch offiziell) dem „Spiel makabrer Zwietracht“, hat der Streitschlichter schon lange versagt. Ursächlich für das ganze Tohuwabohu scheint das Handeln und die Hinrichtung der Hexe Hester gewesen zu sein. Hesters „Familie“, also ihre Geschwister, ist seitdem einem höheren Codex folgend bestrebt, diesen gefährlichen Ort wegen der Verbindung zu Hester plattzumachen. Wie gut, dass einige von ihnen Stürme beschwören können, die genau das zu bezwecken vermögen. Harrow County ist eben ein magischer Ort. Der Familie stellen sich die „Beschützer“ rund um Emmy entgegen. Wer ist Emmy? Die wurde als Baby im Loch des Baumes entdeckt, an dem Hester gehängt worden war, und das bereits kurz darauf … Für die Einwohner von „Harrow County“ schon ein Zusammenhang mit Geschmäckle. Und für die Familie ein weiterer Grund, destruktiv in „Harrow County“ tätig zu werden. Denn Emmy erfreut sich aus irgendeinem Grund erwachender magischer Fähigkeiten.
Jetzt ist „Harrow County“ ein Ort, an dem es sowieso schon das ein oder andere Übersinnliche gibt, Spuke zum Beispiel. Diese zu beschwören, ist beim Kampf beider Fraktionen ein Erfolgsfaktor. Jedes Familienmitglied und jeder Beschützer hat spezielle übersinnliche Fähigkeiten, die helfen sollen, in diesem Konflikt die Oberhand zu behalten.
Neben Emmy gibt es auch Kammi. Sie ist die Zwillingsschwester von Emmy – sie wurde zumindest in der gleichen Nacht gefunden. Kammi wurde allerdings in einer städtischen Problemfamilie aufgezogen. Gemeinheit und Hinterhältigkeit waren dort Erziehungsziele. Jetzt ist sie gekommen, den Platz Emmys einzunehmen und ihre Kräfte zu stehlen.
Und schließlich wird Hester auch wieder auftauchen, um ein für alle Mal gottgleich die Herrschaft über „Harrow County“ zu erreichen. Taktisch nutzt sie Schlangen und die Wurzeln des Baumes, an dem sie durch die Einwohner hingerichtet worden war. Wie perfide!
In „Harrow County“ wird gekämpft, um schnell Siegpunkte zu erlangen. Dazu müssen Spuke der Gegner eliminiert werden, in den Dornen übernachtet werden und – je nach Fraktion – zum Beispiel Häuser zerstört oder Einwohner gerettet werden. Das Spiel verläuft in 5 Kapiteln. Kapitel 1 und 2 sind dafür da, die Spielmechaniken einzuführen. Kapitel 3 und 4 sind zwei verschiedene Settings, in denen sich entweder die Beschützer und die Familie einen auf die Glocke hauen (Kapitel 3) oder Kammi sich eine der zwei vorher eingeführten Faktionen zur Brust nimmt (Kapitel 4). In Kapitel 5 greift schließlich Hester noch ein und verwandelt Harrow County in ein Drei-Spieler-Spiel. Dabei sind die Mechaniken und die Spielziele jeder Fraktion unterschiedlich.
Das Spielmaterial
Bei „Harrow County“ spricht man zuerst über den Würfelturm a.k.a. Würfelbaum. Hier wird die Spieleschachtel in das Spiel integriert. Man kann oben in die aufrechtstehende Spielschachtel über einen kleinen Trichter kleine, farbige Holzwürfel einfüllen. Diese fallen dann vorne aus der Spielschachtel heraus. Erstaunlich viele Würfelchen bleiben aber hängen und werden gegebenenfalls in Folgewürfen wieder freigegeben. Aufgefangen werden sollen die Würfel durch das „Schlachtfeld“, die Unterseite einer zu klein beziehungsweise zu flach gestalteten Pappschachtel. Häufig fallen Würfel einfach aus dem Schachtfeld heraus.
Insgesamt haben alle Plättchen, Bretter und Karten eine gute Qualität. Vor allem die Gestaltung ist stimmig und reiht sich in die der gleichnamigen Graphic Novel schlüssig ein. Übersichtkarten sind vorhanden und geben einem für die volle Partie einen Überblick. In Kapiteln 1 und 2 verwirrt die Übersicht, da hier Regeln zu lesen sind, die noch nicht eingeführt worden sind. Der blaue Stoffbeutel, aus dem Plättchen durch den Spieler der Familie herausgezogen werden, ist mit einer Breite von 10 cm für größere Hände leider zu klein. 4 bis 5 zusätzliche cm wären wünschenswert gewesen. Im Querformat wäre der Beutel hilfreicher gewesen.
Die Spuke der einzelnen Fraktionen sind als Mini-Miniaturen der 15-mm-Klasse ansprechend gestaltet. Die Legenden sind als kunstvoll gestaltete Pappaufsteller realisiert. Der zweifach geknickte Spielplan beult sich anfangs etwas widerspenstig. Alles andere ist einfach solide Komponentenkost.
Dem Spiel ist der „Harrow County Beobachter“ beigelegt. Das ist eine kleine Zeitung, in der über die aktuellen lokalen Geschehnisse berichtet wird. Eine wunderschöne Art, thematisch in das Spiel einzuführen!
Der Spielablauf
Du - Ich - Du - Ich - Du - Ich - Dornenwertung - Partieende? - Verwaltung. So wird eine Runde bei „Harrow County“ in der Regel aussehen.
Der Spieler am Zug dreht eines von vier seiner Einmachglasplättchen auf die passive Seite und führt die dazugehörige Aktion aus. Das heißt, dass man pro Spielrunde (mindestens) eine dieser vier Aktion nicht ausführen wird. Ganz grundsätzlich kann man auf dem Hexfeld-Spielbrett mit verschiedenen Landschaftstypen Spuke „beschwören“ und seine Einheiten bewegen. Darüber hinaus kann man für den Würfelturm, äh, Würfelbaum mit „Verstärken“ über die Platzierung zusätzlicher Würfel auf dem Schlachtfeld seine Siegeschancen verbessern.
Die Logik, mit der diese Aktionen ausgeführt werden, ist für jede Fraktion anders. So können etwa die Beschützer über die Wahl des „Fähigkeiten-Einmachglases“ gleiche Aktionen mehrmals ausführen. Die Familie zieht die möglichen Aktionen aus dem blauen Stoffbeutel. Beide Seiten haben insbesondere über das Einsammeln der Fähigkeiten-Plättchen auf dem Spielbrett die Mächtigkeit dieses Einmachglases verbessern. Nach Wahl des „Ritual-Einmachglases“ zieht man ein Ritualplättchen und darf so viele der oben beschriebenen Aktionen durchführen wie man Ritualplättchen hat. Das eskaliert über Zeit potenziell ganz schön.
Einmachglas Nummer drei ist das Legenden-Einmachglas. Hier geht es weiter mit der Asymmetrie der Fraktionen. Jede Legende hat eine spezielle Fähigkeit. Jede Fraktion hat wiederum spezielle Fraktionstalente. Je nach Mächtigkeit der Aktion (auch hier helfen auf dem Brett eingesammelte Plättchen) können mehr oder weniger dieser Talente ausgeführt werden. Hier geht es etwa um die Manipulation von Fähigkeitenplättchen auf dem Spielbrett, die Bewegung von zu rettenden Bewohnern oder auch von Einheiten auf dem Spielplan.
Schließlich gibt es noch im Einmachglas vier die Angriffsaktion versteckt, die einzige Aktion, die man mehrfach, wenn auch in abgeschwächter Form, in einer Spielrunde durchführen kann – ein Spiel makabrer Zwietracht eben. Dafür werden nach Bestimmung von angreifenden Einheiten und Zieleinheiten alle Würfel auf dem Schlachtfeld in den Würfelbaum geworfen. Die Mehrheit der Würfel gewinnt. Gewinnt der Angreifer, darf er Würfel ausgeben, um gegnerische Spuke vom Spielplan zu entfernen. Gewinnt der Verteidiger, darf er im Rahmen einer Spuk-Schlägerei mit Eintausch von Angriffswürfeln einen angreifende Spuk vom Spielplan entfernen. Gleiches darf der Angreifer, vorausgesetzt er hat genug Würfel auf dem Schlachtfeld.
Spuke vom Spielplan zu entfernen bringt Siegpunkte. Wer am Ende einer Spielrunde das schwer zu verteidigende Dornenfeld beherrscht, bekommt ebenfalls einen Siegpunkt. Die großen Siegpunkte gibt es für das Erreichen der Fraktionsziele. Die Beschützer müssen die Bewohner zum sicheren Nachhause geleiten. Die Familie muss einen durchgehenden Sturm von der Heimatbasis bis zum Haus der Bewohner erzeugen. Kammi möchte die Puppe finden, in der die Bewohner oder die Familie ihre Lebensenergie eingesperrt haben. Alles Schweine!
Der Spielplan selbst besteht aus unterschiedlichen Geländefeldern, die insbesondere für den Spielaufbau Relevanz haben. Das oben beschriebene Dornenfeld sticht heraus, ebenso die beiden Gebirge-Felder. Letztere erfordern mehr Bewegungskosten beim Betreten. Dafür steigt die Reichweite für Angriffe. Die von der Familie gesetzten Stürme erhöhen die Bewegungskosten für die anderen Fraktionen.
Die in Kapitel 2 eingeführten Handkarten erweitern die Möglichkeiten der Spieler. In Kapitel 3 werden Bonusplättchen eingeführt, die einen Bonus geben, wenn die zugehörige Aktion erstmalig in der Runde gespielt wird. Kapitel 4 führt die neue Fraktion „Kammi“ ein und Kapitel 5 neben „Hester“ insbesondere das Spiel zu dritt.
Sollte ein Spieler 7 Punkte in der vorletzten Phase einer Runde erreicht oder überschritten haben, endet die Partie mit einem Sieg des Spielers mit den meisten Siegpunkten.
Das Spielgefühl
„Harrow County“ stellt sich didaktisch geschickt an. In den ersten Kapiteln werden Stück für Stück neue Regeln hinzugenommen, um die Spieler an die vollumfängliche Spieleerfahrung heranzuführen. Braucht man das? Wenn keiner der Spieler das Spiel kennt, sind die Zwischenschritte durchaus sehr angenehm, um sich das Spiel zu erschließen. Am Ende der ersten Kapitel-1-Partie sollte man sich vor Augen führen, dass die finale Spielerfahrung doch deutlich anders sein wird. Für erfahrene und ungeduldige Spieler ist der Direkteinstieg in das dritte Kapitel sicherlich möglich.
In den Kapiteln 1 bis 4 haben wir es mit einem konfrontativen und asymmetrischen 1-gegen-1-Spiel zu tun. Die Entscheidungen verlangen taktisches Feingespür und einen Plan. Schnelles Ausbreiten auf dem Spielplan ermöglicht eine schnelle Verbesserung der Fähigkeiten. Zielstrebige Bewegungen bringen den Spieler näher an die Realisierung der großen Punkte. Sollte man das mittlere Dornenfeld besetzen und bestmöglich absichern für den stetigen Punktgewinn am Ende einer jeden Runde? Und gerade für die fortgeschrittenen Kapitel gilt: Die Platzierung eines jeden Spuks kann über Sieg und Niederlage entscheiden, weil Häuser und Bewohner sukzessive auf noch freie Felder eines bestimmten Geländetyps eingesetzt werden. Zu dumm, wenn das einzig freie Feld in der Nachbarschaft der gegnerischen Basis ist und man damit die Punkte quasi verschenkt.
Die Handkarten bringen eine Priese Unberechenbarkeit für den Gegner hinein. Das gilt für die Beschützer und Kammi noch mehr als für die Familie, da erstere in jedem Zug eine Karte spielen dürfen. Die Familie darf nur eine Karte pro Runde spielen.
Durch den Einsatz verschiedener Legenden bekommen die Partien unterschiedliche Feinjustierungen. Dabei ist die Fähigkeit der Legenden für den jeweils anderen durchaus gut greifbar. Damit sind die Handlungen des Gegners zumindest mit etwas „Harrow County“-Erfahrung eben nicht wie aus der Wunderkiste.
Auch die im Kapitel 4 eingeführte Fraktion Kammi lässt sich interessant spielen und stellt eine Abwechslung zu der Familie und den Beschützern dar. Zwei verdeckte Legenden und die Suche nach der verdeckten Puppe machen „Harrow County“ zu einem Katz-und-Maus-Spiel. Es ist wirklich absolut bemerkenswert, wie viel Spiel sich in der Schachtel befindet.
Kapitel 5 ist insofern besonders, als dass hier auch ein Spiel zu dritt eingeführt wird. Die größte Herausforderung dabei ist eigentlich, dass man vorher drei Spieler in mehreren Zweispieler-Partien mit dem Spiel vertraut machen muss. Das passt nicht so häufig in den Spielealltag – zumindest nicht in meinen. Dafür belohnt einen das Spiel mit erneut interessanten Kniffen und einem wieder neuen Spielgefühl. Hatte ich nicht vorher geschrieben, wie viel Spiel in dieser Schachtel steckt? Es ist noch mehr.
Was ist mit dem Zufallselement Würfelbaum? Der Würfelbaum kann frustrieren. Wir hatten Partien, in denen deutlich mehr Würfel einer Fraktion im Baum hängen geblieben sind als von der anderen. Dieser Zufallsfaktor muss aber nicht in jeder Partie nerven. Und viele Würfel im Baum heißt ja, dass man beim nächsten Kampf auf viele Würfel hoffen darf. Und es funktioniert faktisch auch wirklich gut, dass der Baum alte Würfel auch sukzessive wieder freigibt. Ich habe es ausprobiert. Das Spiel macht hier also nichts falsch. Und der Baum funktioniert allemal „gerechter“ und taktischer als jeder Würfel. Doch Achtung: Einige Würfel verlangen einem alles ab, um den Baum beim Zusammenräumen des Spiels auch wirklich vollständig zu leeren.
Fazit: „Harrow County“ gehört für mich zu den großen Überraschungen dieses Spielejahrgangs. Seine ganze Faszination entwickelt es vollständig nach mehreren Partien. Im schnelllebigen und manchmal oberflächigen Rezensionsgeschäft droht so ein Juwel daher unterzugehen. Für mich ist „Harrow County“ eines der besten und abwechslungsreichsten 1-gegen-1-Spiele am Markt. Dabei bietet es die Möglichkeit, auch drei Spieler in die Welt von Harrow County zu entführen. Die eigenwillige Gestaltung inklusive Würfelturm-Spieleschachtel verleiht dem Spiel einen besonderen zwieträchtigen Charme.
Harrow County
Brettspiel für 1 bis 3 Spieler ab 14 Jahren
Jay Cormier, Shad Miller u. a.
Corax Games 2024
EAN: 072576519242
Sprache: Deutsch
Preis: 75,00 EUR
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