Marjorie Finnegan: Temporal Criminal

Wie würdest du deine Zeit nutzen, wenn du wüsstest, dass Zeitreisen möglich wären? Die Zeitreisende Marjorie Finnegan hat ihre ganz eigene Vorstellung. Sie macht, wozu ihr Herz begehrt, und lässt keinen Stein auf dem anderen. Dabei verdreht sie nicht nur ihrem Begleiter – einem Männerkopf mit jeder Menge Drähten und technischem Know-how – den Kopf. Süchtig nach Abenteuern und Klunkern, vergisst sie, dass ihr die Polizei dicht auf den Fersen ist. Dass es da irgendwann richtig „knallen“ wird, ist klar – fragt sich nur wie und wann?

von Daniel Pabst

Wo der Name „Garth Ennis“ draufsteht (beispielsweise bei „Preacher“ und „The Boys“), da gibt es reichlich verrückte Action, Humor und Absurditäten. Und da der Comic-Autor bislang noch keine „Zeitreisen-Geschichte“ geschrieben hat, wurde es allmählich Zeit, dass er auch diesen Bereich bespielt. Mit „Marjorie Finnegan: Temporal Criminal“ also geht es durch die Menschheitsgeschichte – erzählt aus der weiblichen Perspektive. Sex, Blood & Revenge geben hier den Rhythmus vor. Film ab!

Vom Cover her erinnert dieser Comic an das Videospiel „Lolipop Chainsaw“ vom japanischen Programmierstudio Grasshopper Manufacture aus 2012 oder an die berühmt-berüchtigte Comicfigur Harley Quinn des US-amerikanischen Verlags DC Comics. Auffällig auf dem Cover mit Marjorie Finnegan sind die ganzen Schätze und Menschen aus verschiedenen Epochen im Hintergrund. Grund dafür ist, dass diese Frau eine verbrecherische Zeitreisende beziehungsweise Verbrecherin auf Zeit („Temporal Criminal“) ist.  

Erschienen ist der Comic bei Cross Cult (ursprünglich veröffentlicht bei AWA Upshot). Gezeichnet hat ihn Goran Sudzuka. Koloriert wurde er von Miroslav Mrva. Was wir da präsentiert bekommen, beginnt im alten Ägypten während des Bestattungsrituals des Pharaos Ramses. Eine seiner Sklavinnen ist die Zeitreisende, welche sich an den Grabbeigaben bereichern wollte. Jetzt sieht sie sich der Gefahr ausgesetzt, lebendig in die Grabkammer eingeschlossen zu werden. Schleunigst ändert Marjorie ihren Plan, zückt ihren „Doktor Kaliber Zwölf“ und lässt das Mündungsfeuer aufblitzen!

Damit die „Zeitlinie“ nicht so wie die Diener und Dienerinnen des toten Pharaos durcheinander gewirbelt werden, trägt Marjorie ein kleines Gerät am Bein. Sein technischer Name lautet: „K-2001 Neuausrichter“, der die Zeit repariert, indem er sofort eine neue Realität einsetzt und die Opfer und Missetaten in der Geschichte ersetzt. Damit ist das heillose Durcheinander und Gemetzel ohne gravierende Folgen für die Zukunft. Marjorie erklärt uns das so: „Der Tote wechselt in ein anderes Szenario rüber. Etwas, das ganz und gar ins Bild des Zeitalters passt“. Wenn sie also einen Ägypter erschießt, so ereilt ihn das alternative Schicksal „vom Streitwagen überrollt“ oder „(vom) Krokodil (gefressen)“.

Da Marjorie nur sich selbst genügt, kümmert sie nicht, dass die Polizei der Zeitreisenden auf der Spur ist. Bislang konnte die Verbrecherin immer rechtzeitig mit ihrer Beute aus der Zeit herausspringen. Dabei hilft ihr der angebundene Männerkopf, der einerseits bereut, dass er alles mitansehen muss, und andererseits bei Marjorie wohnt und alles mitansehen „darf“. Welche Verbindung zwischen den beiden existiert und woher Marjorie ihren „Diener“ hat, ist eine echte Überraschung in diesem Comic und wird daher nicht verraten. Nur so viel: Auch hier spielt die Idee der „alternativen Welt“ und das Thema „Zeit“ eine entscheidende Rolle.

Das Chaos wird eigentlich aber erst so richtig perfekt, da die verfolgende Polizeibeamtin niemand anderes ist als die jüngere Schwester von Marjorie. Diese hat eine eigene Motivation, ihre Schwester „einzubuchten“. Im Laufe des Comics wird Marjorie auch das Gefängnis – zeitweise – von innen sehen müssen, was erneut für Chaos sorgen wird, und ausgerechnet im gemeinsamen Duschbereich der inhaftierten Frauen eskaliert. Dort lernen die Leser und Leserinnen auch „Dina“, ein Echsenwesen (genauer: einen weiblichen T-Rex), kennen.

Ja, geht es denn noch verrückter? Wer bis hier hin gelesen hat, der hat einen recht guten Eindruck erhalten, was sich Garth Ennis da so alles hat einfallen lassen. Vor expliziten Inhalten und nackter Haut sollte man auch keine Scheu haben, um bis zur letzten Seite durchzuhalten. Es grenzt mitunter an totalen „nonsense“ und gleichzeitig ist es genau diese (gewagte) Mischung an Gedankenspielen zum Zeitreisen und der Brutalität und Abgebrühtheit der Akteure, welche diesen Comic so aus der Masse herausstechen lässt – ist doch alles fiktiv und reine Kunst!

Kunst ist dieser Comic insbesondere durch die fantastische Arbeit des Zeichners Goran Sudzuka und die ebenfalls starke, pastellartige Farbgebung von Miroslav Mrva. Die Figuren wurden von den beiden „zum Leben erweckt“. Marjorie Finnegan ist derart eindrucksvoll und stark charakterisiert worden, dass man ihr trotz allem Wahnsinn und Egoismus gerne über die Comic-Seiten folgt. Ist ihre Brutalität vielleicht nur eine äußere Schale?

Die vielen Kraftausdrücke, die hier fallen, gehen aber nicht nur auf das Konto von Marjorie, sondern auch auf die Konten der beiden männlichen Gegenspieler: ein teuflischer Ex namens „S(a)tan Zanzibar“ und der „Herr des Bösen“. Die beiden hecken einen Plan aus, um die Menschheitsgeschichte neu zu schreiben. Wer könnte die beiden besser aufhalten, als zwei sich bis aufs Blut hassende Schwestern und ein herabhängender Kopf?

Um die Kaufentscheidung für diesen krassen Comic zu erleichtern, wird aus der „Outroduction“ von Garth Ennis zitiert, welche am Ende in der Übersetzung von Franz He abgedruckt wurde. Darin sagt Ennis: „Ein Mädchen. Eine Blondine, denn die haben mehr Spaß. Sehr schön, aber völlig unbefangen. Es ist ihr egal, wie sie aussieht. Sie trägt eine alte, schäbige Latzhose mit einem Kopf, der an ihrem Gürtel hängt. Sie rennt, nicht weil sie Angst hat oder wütend oder entschlossen ist, sondern weil sie Spaß hat.“ Vor euch liegt also ein Leseerlebnis, das Spaß bereitet, wenn ihr euch einfach gedankenlos darauf einlasst – und vielleicht mitnehmt, dass trotz aller Verrücktheit in der Menschheitsgeschichte ein Lachen besser ist als ein endloses Kopfzerbrechen.

Leseprobe

Fazit: „Marjorie Finnegan: Temporal Criminal“ ist ein Comic, der zwischen purem actiongetriebenen „nonsense“ und großen Zeitreisefragen schwankt. Die krawalligen und blutigen Handlungen à la Quentin Tarantino sind nicht für jedermann. Durch die knalligen Farben und sehr starken Zeichnungen, die die Emotionen der Betroffenen glasklar verdeutlichen, wird diese Geschichte von Garth Ennis sehr lebendig. Ob sie sich für eine Serienadaption eignet, wird – wie könnte es treffender sein – die Zeit zeigen. Marjorie ist eine weibliche Comic-Figur, die nicht zu unterschätzen ist. Durch die Zeitreise erhält der Comic eine weitere Ebene, die nicht nur Anspielungen auf „2001: Odyssee im Weltraum“ von Stanley Kubrick enthält. Wer sich auf solch eine Reise begeben möchte, der wird es nicht bereuen – Kopfschütteln und lautstarke Aufschreie beim Lesen inklusive. Wer braucht schon „Barbie“ – wenn es Marjorie gibt?

Marjorie Finnegan: Temporal Criminal
Comic
Garth Ennis, Goran Sudzuka, Miroslav Mrva
Cross Cult 2023
ISBN: 978-3-98666-023-9
256 S., Hardcover, deutsch
Preis: 26,00 EUR

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