Drachengasse 13: Geister aus der Tiefe

Diese Mutprobe geht aber mal gründlich in die Hose! Muss ja auch, wenn man einen Zwergenjungen unvorbereitet in die Verbotenen Hügel schickt. In diesem verlassenen Stadtteil Bondigors sollen Geister ihr Unwesen treiben. Deswegen trauen sich noch nicht mal ausgewachsene Zwergen-Haudegen dorthin. Als der junge Zwerg Bortha nach seiner Mutprobe nicht mehr auftaucht, bleibt Sando, Tomrin und Hanissa keine andere Wahl, als den Jungen zu suchen.

von Oli Clemens

Sandos Laune ist total im Keller, als er in dem Geheimversteck in der Drachengasse 13 auftaucht. Die ganze Nacht hat er kein Auge zugemacht, denn sein Gewissen quält ihn. Der Zwergenjunge Bortha ist nämlich von seiner Mutprobe in den Verbotenen Hügeln nicht zurückgekehrt. Der ging auch deswegen in diese von Aberglauben verseuchte Gegend der Stadt, weil es Sando nicht verhindert hat – obwohl er es gekonnt hätte. Nun nagen an ihm die Selbstvorwürfe.

Im zweiten Teil der Romanserie „Drachengasse 13“ rückt der dreizehnjährige Waise aus dem Hafenviertel in den Fokus. Nach dem Tod seiner Eltern lebt er bei dem Zwerg Gump. Sando wächst so quasi als Halbzwerg auf. Deswegen, und natürlich auch wegen seines Muts, konnte er als Mensch ein Mitglied der „Grubenjungs“ werden. Das ist eine Bande, in der sonst nur die mutigsten Jungzwerge aufgenommen werden. Um zu beweisen, dass man ordentlich Mumm in den Knochen hat, wartet auf jeden auch ein Aufnahmeritual.

Für den neuesten Anwärter Bortha heißt das, nachts in die Verbotenen Hügel zu gehen, einem hermetisch abgeriegelten Teil Bondigors. Dort soll es nämlich Geister geben, nachdem dort vor hundertachtzig Jahren Zwerge in den Minen unter dem Viertel verschüttet wurden. Diese hatten in der Art der Zwerge nach Edelmetallen und wertvollen Voleran-Kristallen geschürft. Doch die Gier trieb ihre Stollen immer weiter in die Tiefen, bis es zur Katastrophe kam. Bei einem Stolleneinsturz wurden 100 Zwerge verschüttet. Doch statt sie zu retten, flüchteten die überlebenden Zwerge zurück an die Oberfläche und überließen die Verschütteten ihrem Schicksal.

Nun hat sich der Glaube festgesetzt, dass es in den Stollen spuken müsse, denn Rache ist ein mächtiger Grund, den eigenen Frieden nicht zu finden und seelenlos als Geist zu existieren. Außerdem dringen auch nachts immer mal wieder Geräusche aus den Verbotenen Hügeln. Seitdem setzt keiner mehr einen Fuß in diesen verlassenen Stadtteil und eine große, bewachte Mauer, die Schwelle, schützt davor, das etwas herauskommt. Doch wer wie Sando jeden Winkel Bondigors kennt, weiß auch, wo die Schlupfwinkel sind, um ungesehen die Verbote und Ängste der Erwachsenen zu umgehen.

Bevor sich die drei Freunde aber Hals über Kopf in das Abenteuer stürzen, stellen sie erst einmal Nachforschungen bei den Zwergen an, um möglichst viel über die Geschichte des verfluchten Viertels zu erfahren. Während sich Sando sicher ist, dass es Geister gar nicht gibt, weiß es Hanissa besser. Sie kennt sogar einen, nämlich Huibur, den Geister-Professor in der Magischen Universität. Und von ihm bekommen sie wertvolle Hinweise, wie man sich dessen Artgenossen vom Hals halten kann. Als Tomrin und Sando sogar noch eine Spürechse auftreiben können, sind die Freunde scheinbar perfekt vorbereitet. Die drei wollen in den Verbotenen Hügeln nach Bortha suchen. Und natürlich begleitet sie auf dieses Abenteuer auch Fleck, der kleine Drache, den die Freunde im ersten Band „Schrecken über Bondigor“ gerettet haben und der seitdem in Hanissas Obhut lebt.

„Geister aus der Tiefe“ ist von vorne bis hinten eine Hommage an das Volk der Zwerge. Während im Vorgängerabenteuer die Stadt Bondigor wie in einem Fotoalbum in seiner Diversität dargestellt wurde, porträtieren die Autoren im zweiten Roman der Reihe die Traditionen und Lebensweisen der Zwerge, die wir eigentlich unter der Erde vermuten würden. Warum sie an der Oberfläche leben? Darauf finden die Freunde natürlich eine Antwort. Egal, ob über oder unter der Erde, Zwerge leben lieber abgeschieden von den anderen Völkern, die sich in Bondigor niedergelassen haben, und treten unseren Abenteurern erst einmal mit Skepsis und Ablehnung entgegen. Für sie gelten in ihrem eigenen Teil der Stadt ihre eigenen Gesetze. Ganz der Tradition der High Fantasy entsprechend, sind Bondigors Zwerge bärtig, wortkarg, abergläubisch, schwer bewaffnet und lieben zotige Geschichten. Und trotzdem finden wir auch in den Figuren eine andere, weiche Zwergenseite, die diese Wesen sehr liebenswert macht. Dabei ist vor allem Sandos Onkel Gump zu nennen, der jederzeit das offene Wasser dem unterirdischen Stollen vorzieht, aber auch ein mutiger Jungzwerg namens Thimon überrascht uns und unsere Erwartungen.

Für „Drachengasse 13 – Geister aus der Tiefe“ wollte ich mir Zeit lassen und das Buch in kleinen Häppchen lesen. Das hat so gar nicht geklappt, denn ich habe wegen der spannenden Handlung das Buch verschlungen. Statt in den engen Gassen Bondigors zu schlendern, dringen wir lesend in eine geisterhafte Parallelwelt vor, in die sich keiner der bärbeißigen Zwerge traut. Hanissa, Sando und Tomrin aber schon. Sie sind mittlerweile beste Freunde geworden. Das Geheimversteck in der Drachengasse 13 ist ihr täglicher Treffpunkt und quasi das Hauptquartier für ihre Abenteuer.

Dieses ist diesmal ab Seite 1 von einer durchgängigen Spannung geprägt und von der Frage, ob nun wirklich Geister in den Minen unter den Verbotenen Hügeln spuken oder ob dies nur Zwergen-Aberglaube ist. Tomrin, Hanissa und Sando geraten auf ihrer Reise unter die Erde in wirklich handfeste Schwierigkeiten. Nur ihrem Drachen Fleck ist es zu verdanken, dass ihr Abenteuer in den Verbotenen Hügeln doch noch mit einem blauen Auge endet.

Die knapp 220 Seiten dieses Abenteuers sind wieder in 13 Kapitel gegliedert. Der Text ist angemessen groß. Eine Seite fasst 26 Zeilen. Damit kommen junge Leser und Leserinnen ab 10 Jahren gut klar. Ich glaube sogar, dass auch jüngere Kinder mit den „Drachengasse“-Abenteuern einen großen Lesespaß erleben können.

Fazit: In diesem Roman geht es wieder um Freundschaft, Vertrauen und Mut, doch auch andere Themen kommen nach und nach an die Oberfläche, wie etwa das Überwinden von Ängsten, der Umgang mit Vorurteilen und Versöhnung. Das beschäftigt Kinder, doch nur selten reden sie darüber. Dieser Abenteuerroman schlägt eine Brücke, um sich mit Erwachsenen über diese Themen austauschen zu können. Die Stadt Bondigor wirkt dabei wie ein großer, bunter Abenteuerspielplatz, der erkundet werden will. Und obwohl wir die Richtung nicht selbst entscheiden, nimmt uns der Erzähler immer wieder mit in neue Ecken dieser quirligen und diversen Stadt. Als Leser folge ich immer gerne und freue mich auf die neuen fantastischen Eindrücke. Kurz gesagt: Ich fühle mich in Bondigor richtig wohl! Durchaus amüsant finde ich, dass zu den klassischen Motiven des Genres immer wieder sehr moderne Aspekte in diesen Fantasy-Roman eingebaut werden. Nicht nur, dass die drei Freunde natürlich gerne Gumps selbstgemachte Brause trinken, bei ihren Vorbereitungen besuchen sie den Drachenzüchters Osrum in dessen Büro. Und spätestens, wenn von Elfenwitzen die Rede ist, können Kinder in dieser doch fantastisch-fremden Welt mit ihren eigenen Erfahrungen andocken. Genau so soll es sein!

Drachengasse 13: Geister aus der Tiefe (neue Edition)
Fantasy-Roman (ab 10 Jahren)
Bernd Perplies, Christian Humberg
Edition Roter Drache 2022
ISBN: 978-3-96815-039-0
224 S., Hardcover, deutsch
Preis: EUR 10,95

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