Die Geschichte der Science-Fiction

Science-Fiction ist schwerelos, zeitlos und phantastisch. Angesichts der Vielzahl an Formen lässt sie sich unmöglich umfassend beschrieben. Allein die Definition fällt schwer. Wie würdest du Science-Fiction prägnant definieren? Weit einfacher wird es dir fallen, Autoren und Autorinnen des Genres zu nennen, richtig? Bücher, Filme, Serien, Comics, Rollenspiele, Hörspiele, Spiele und Kunstwerke, die sich mit Science-Fiction befassen sind allgegenwärtig. Gemeinsam ist ihnen, dass sie einen Einblick in die Umstände und Gegebenheiten ihrer Entstehungszeit gewähren. „Die Geschichte der Science-Fiction“ wagt eine bebilderte Zusammenfassung.

von Daniel Pabst

Ein Comic mit 216 Seiten, der sich „Die Geschichte der Science-Fiction“ nennt, klingt nach einem außergewöhnlichen Projekt. Enthalten ist hier keine Fiktion, sondern der Versuch, das Genre der Science-Fiction von den Anfängen bis zum derzeitigen Istzustand zu erfassen. Das Cover erzählt uns bereits die erste Geschichte. Anders als bei der Inspirationsquelle für das Cover („Die Erschaffung Adams“ von Michelangelo), vermittelt das Bild, dass die Science-Fiction nicht etwa göttlich erschaffen wird, sondern von Generation zu Generation weitergegeben wird. Science-Fiction als „Hand in Hand“ mit der Zeit gehend? Woher stammen die Motive und Inspirationen für die phantastischen (Weltraum-)Erzählungen? Wer inspirierte wen? Geht es einzig um die Frage des Ursprungs, oder ist da noch mehr? Wie kommt man auf die Idee, einen Comic mit dem Titel „Die Geschichte der Science-Fiction“ zu kreieren? Was lehrt uns der Comic? Und was kann Science-Fiction?

Beginnen wir bei den einfachen Antworten, die da lauten: Die Schaffer des Comics heißen Xavier Dollo (Text und Szenario) und Djibril Morissette-Phan (Zeichnungen und Farbe). Beide vereint das Interesse an Science-Fiction. Einen Comic als Geschichtsbuch zu verfassen, bedarf dennoch etwas mehr als Mut. Wie nur soll man dem Genre gerecht werden? Xavier Dollo und Djibril Morissette-Phan versuchen dies zunächst, indem sie die Geschichte in verschiedene Kapitel aufteilen. Diese lauten dann zum Beispiel: „Die Ursprünge der SF: Von der Odyssee bis Frankenstein – Von der Antike bis zum frühen 19. Jahrhundert“, oder „Die Einführung der Pulps: Vereinigte Staaten, spätes 19. Jahrhundert bis zur Weltwirtschaftskrise von 1929“, oder „Cyberpunk: Die letzte große Revolution in der Science-Fiction?“. Neben dem aufkeimenden Interesse beim Lesen der Überschriften denkt man sich, ob es weniger sperrigere Überschriften nicht auch getan hätten. Bereits ab diesem Zeitpunkt weiß man, womit man es hier zutun bekommt. Dieser Comic ist ein richtiger Brocken, den man nicht in einem Zuge „herunterlesen“ wird. Es ist vielmehr eine Art Almanach und – wie der Name ankündigte – ein Geschichtsbuch.

Weiß man, auf was man sich bei diesem seitenstarken Comic eingelassen hat, ist er beeindruckend und sehr lehrreich. Die Zahl der Autorinnen und Autoren, deren schriftstellerische Leben wiedergegeben werden und mit zeitgeschichtlichen Ereignissen und Umständen in Bezug gesetzt werden, ist eine Wucht. Sowohl bekannte Namen, als auch unbekanntere (oder in Vergessenheit geratene) Namen erhalten ausreichend Text. Da wären: Arthur C. Clarke, Thomas Morus, Jonathan Swift, Mary Godwin (besser bekannt als Mary Shelley), Jules Verne, H. G. Wells, Arthur Conan Doyle, Edgar Allan Poe, Jack London, Edward Bellamy, Ray Cumming, George Allan England, Edgar Rice Burroughs, H. P. Lovecraft, Catherine L. Moore, J.-H. Rosny Aine, Maurice Renard, John Wood Campbell, Isaac Asimov, Robert A. Heinlein, A. E. Van Vogt, Theodore Sturgeon, Ray Bradbury, Richard Matheson, John Wyndham, Jack Vance, Lewis Padgett, Fritz Lang, George Orwell, J.-C. Mezieres, Pierre Christin, J.C.-Forest, Anthony Burgess, Philip Kindred Dick, Frank Herbert, Robert Silverberg und Cixin Liu. Wurde jemand vergessen? Ja, ganz sicher! Die Liste aller im Comic vorgestellten Science-Fiction-Größen würde hier jedoch Überhand nehmen. Man merkt aber schon an dieser (kleinen) Auswahl der 216 Comic-Seiten, dass sich das Genre über die Jahrhunderte hinweg ausgedehnt hat!

„Wo aber bleiben die Frauennamen, neben Mary Shelley?“, könnte man fragen. Auch darauf gibt der Comic eine Antwort. In dem eigenen Kapitel: „Die Science-Fiction und der Feminismus“ wird gesagt, dass es von Mary Shelley bis in die 1960er Jahre kaum Frauen in dem Genre gab. Zwar spielten sie in den Werken bedeutende (und mitunter auch klischeehafte) Rollen, als Autorinnen suchte man sie jedoch – bis auf wenige Ausnahmen – vergeblich. Dies wandelte sich jedoch ab den 1960er Jahren. So erfahren wir im Rahmen der genealogischen Übersicht zur Entwicklung der angelsächsischen feministischen Science-Fiction an dieser Stelle im Comic die Namen: Catherine Lucille Moore, Gertrude Barrows Bennett, Edna Mayne Hull, Virginia Kidd, Leigh Brackett, Cele Goldsmith, Judith Merril, Katherine MacLean, Marion Zimmer Bradley, Zenna Henderson, Carol Emshwiller, Joanna Russ, Anne McCaffrey, Ursula K. Le Guin, Alice Sheldon, Kate Wilhelm, Pat Cadigan, Joan D. Vinge, Octavia Butler, Carolyn Janice Cherryh, Connie Willis, Nancy Kress, Margaret Atwood, Lois McMaster Bujold, Kristine Kathryn Rusch, Linda Nagata, Karen Traciss, Elizabeth Moon, Nnedi Okorafor, Becky Chambers, Jeanette Ng, Kameron Hurley, Rovers Solomon und N. K. Jemisin. Das bietet Gelegenheit, die gerne ergriffen wird, um zu recherchieren, welche Werke hinter diesen Frauennamen stehen.

Widmen wir uns nun der Frage, wie Xavier Dollo und Djibril Morissette-Phan ihr „Geschichtsbuch“ umgesetzt haben. Trotz der Zeichnungen sind in diesem Comic viele lange Textpassagen eingebaut worden. Die Schriftgröße ist sogar für das Format von 28x20cm sehr klein geraten. Kritisch könnte man Xavier Dollo daher zurufen, er habe den Wikipedia-Artikel zur „Science-Fiction“ umgestaltet und mit weiteren Informations-Artikeln ergänzt. Doch diese Kritik fällt dann zu übertrieben aus. Denn durch die bunten Bebilderungen durch Djibril Morissette-Phan gibt es „Infotainment“ für die Augen und den Geist. Die Kapitel sind zudem sehr unterschiedlich gestaltet worden, und man erhält zahlreiche Auszüge aus berühmten Werken, als wäre man „live“ dabei. Das ist unterhaltsam und zugleich ein Appetizer, sich den vorgestellten Werken intensiver zu widmen. Auch sind die Zeichnungen kreativ und machen besonders im Kapitel über „Pulp“ richtig was her. Weitreichender als ein Wikipedia-Artikel wird „Die Geschichte der Science-Fiction“ zudem mit den im hinteren Viertel des Comics abgedruckten original Film- und Serienpostern, Buch-, Comic- und Mangacovern. Dort sehen wir in einem Zeitstrahl am unteren Bildrand, gestaffelt nach Erscheinungsdatum, die Science-Fiction-Empfehlungen und „Standardwerke“. Das ist sehr geschickt gemacht und tut den textlastigen Seiten gut.  

Auch eingefleischte Science-Fiction Fans werden durch diesen Comic neue Eindrücke erhalten. Allein die Empfehlungen geben die Möglichkeit, tiefer eintauchen. Die einzelnen Kapitel ermöglichen es weiter, Bekanntes einfach zu überblättern und sich dem Neuen zu widmen. Einen Fokus werfen die Autoren auf die Zusammenhänge. Da wird den Leserinnen und Lesern beispielsweise bewusst gemacht, wo „Star Wars“ oder der „vulkanische Gruß“ seine Ursprünge haben. Auch die Grundlage für Stanley Kubricks „2001: A Space Odyssey“ lernen wir kennen. Und wer hätte gedacht, dass amerikanische „Pulps“, also die Nachfolger der „Groschenromane“, als Experimentierwiese für spätere Science-Fiction Meilensteine dienten. Selbst Kenner und Kennerinnen des Genres werden das Gefühl nach dem Lesen nicht los, dass irgendwie alles miteinander verwoben ist, und wie durch die Zeiten hinweg Anleihen und Bezugnahmen, sowie die weitergedachten Motive erst den wahren kreativen Prozess ausmachen. Aus Kurzgeschichten wurden Bücher, Filme und Serienformate.

„Die Geschichte der Science-Fiction“ ist auch sehr aktuell gehalten worden. Die Autoren haben sich hier bis zu den neuesten Werken durchgearbeitet. Sie sind nah dran am Puls der Zeit. Durch diese Verweise ist dieser Comic auch für die jüngeren Fans interessant. Sie werden insbesondere durch die ihnen bekannten Filme und Serien nicht den Eindruck haben, dass es sich bei Science-Fiction um ein verstaubtes Genre handele, dessen Meisterwerke lange vor ihrer Zeit geschaffen wurden. So sind „Black Mirror“, „Real Humans“, „The Handmaid’s Tale“ und die deutsche Produktion „Dark“ in der Vorstellung mit dabei. Auch wenn in einigen Kapiteln die französische Szene, deren Entwicklung Xavier Dollo als französischer Staatsbürger besonders interessiert, hervorgehoben wird, schlägt der Comic stets den Bogen auf die internationale Science-Fiction. So heißt ein Kapitel auch „Und der Rest der Welt? Science-Fiction in Deutschland, Polen, Italien, Spanien, Schottland, Asien, Südamerika und Afrika“. Hier lernen Jung und Alt eine Menge hinzu. Der Blick weitet sich.

Natürlich darf auch die deutsche „Perry Rhodan“- Reihe von 1961 nicht unerwähnt bleiben, die ihm Rahmen der deutschen Science-Fiction genannt wird. Bei bisher mehr als 3100 erschienene Heften, initiiert von Karl-Herbert Scheer und Clark Dalton (mit bürgerlichem Namen Walter Ernstling) ist das kein Wunder. Man findet sie immer noch wöchentlich beim Zeitschriftenhändler. Vom deutschen Astronomen Johannes Kepler zu Kurd Lasswitz, Paul Scheerbart, Fritz Lang, Franz Werfel, H.W. Franke, Wolfgang Jeschke und Andreas Eschbach, so wird es im Comic gezeichnet. Dabei gibt es noch so viele weitere Autoren und Autorinnen aus Deutschland, die zu nennen wären. Aber das wäre wohl eine „Geschichte der Science-Fiction“ für sich. Der Comic nimmt auch nur sehr kurz in einem Panel zur Science-Fiction in der DDR – mit der Nennung von Ludwig Turek – Bezug.

Damit noch kein Ende. Denn „Die Geschichte der Science-Fiction“ ist auch mit dem Zuschlagen dieses Comics längst nicht auserzählt. Im Vorwort verneigt sich der französische Science-Fiction Autor Pierre Bordage vor der Arbeit von Xavier Dollo und Djibril Morissette-Phan und ihrem monumental-gestalteten Überblick. Allein einmal die Gesichter der Autoren und Autorinnen zu sehen, ist eine gelungene Idee für den Comic gewesen. Im Lesefluss mitzuerleben, welche Mühen diese über die Jahrhunderte auf sich nahmen, um ihre – oftmals von Kritikern ihrer Zeit zerrissenen – Werke zu veröffentlichen, ist sehr lehrreich. Auch dass eine Vielzahl der ausgewählten Themen und erfundenen Entwicklungen ihrer Zeit weit voraus waren, macht Mut gegenüber neuen, durchaus beängstigenden realen Herausforderungen – hat man sie gedanklich doch schon bereist…

Insofern ist dieser Comic vielmehr eine große Verbeugung vor den mühsamen Schaffensprozessen aller Science-Fiction Autoren und Autorinnen. Dass dabei die Ideen trotz der vorhandenen Fülle nie ausgehen, beziehungsweise immer neu zusammengebastelt werden, macht dieser Comic mehr als einmal deutlich. Und dass sich Science-Fiction nicht immer einfach runter liest, lernt man in diesem Comic ebenfalls. Man könnte ihn beinahe als Reifeprüfung für dieses Genre sehen. Am besten aber man schlägt eine zufällige Seite auf, und taucht an dieser Stelle in die weite Welt der Science-Fiction ein. Nach maximal einer halben Stunde Lektüre, wechselt man zu dem am stärksten in Erinnerung geblieben Werk. Betrachtet man diesen Comic also so, als würde man mit einem guten Freund Leseempfehlungen austauschen, verliert er seine erschlagene Textfülle.

Wer die Infocomis von TibiaPress kennt, in denen unter anderem philosophische Themen und Persönlichkeiten in Comic-Form vorgestellt werden, der erhält hier ein ähnlich gestaltetes Werk. Nur ist es diesmal größer, in Farbe und behandelt nichts geringeres als die Science-Fiction. Erschienen ist „Die Geschichte der Science-Fiction“ als Hardcover-Version im Jahre 2021 beim Splitter Verlag, der auf seiner Seite eine Leseprobe, sowie eine eComic-Alternative anbietet. Die Übersetzung von Harald Sachse ist durchgehend positiv zu bewerten. Das ist auch gut so, denn es gibt – darauf sei ein letztes Mal hingewiesen – viel zu lesen auf den 216 Seiten.  

Leseprobe

Fazit: Lange Rede, kurzer Sinn: Science-Fiction begeistert. Der Comic „Die Geschichte der Science-Fiction“ feiert dieses Genre und bietet einen Rundumblick. Inhaltlich ist er erschlagend, was durch die Zeichnungen etwas abgefedert wird. Als Inspirationsquelle für die nächste Lektüre ist er schlicht perfekt. Die Geschichte ruft nach einer Fortsetzung, die folgen wird, solange es Schriftstellerinnen und Schriftsteller der Science-Fiction gibt.

Die Geschichte der Science-Fiction
Comic
Xavier Dollo, Djibril Morissette-Phan
Splitter Verlag Comics 2021
ISBN: 978-3-96219-103-0
216 S., Hardcover, deutsch
Preis: EUR 29,80

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