Und auf Erden Stille – Interview mit Balthasar von Weymarn

Anlässlich der Veröffentlichung unserer Rezension hat der Ringbote mit einem der Macher, Balthasar von Weymarn, ein Interview geführt. Was hat die Hörspielserie mit der Wirklichkeit zu tun? Wie war es, die Geschichte zu einem Ende zu schreiben? Und welche Inspirationsquellen gab es? Antworten findet ihr hier.

Fragen von Daniel Pabst

Ringbote:
Hallo Balthasar, es freut mich sehr, fast auf den Tag genau ein Jahr später mit Ihnen erneut ein Interview führen zu dürfen. Der Anlass ist, dass Sie Wort gehalten haben und innerhalb eines Jahres die 2. Staffel von „Und auf Erden Stille“ produziert haben, die ich mit großer Vorfreude gehört habe. Ohne zu viel von der Handlung vorwegzunehmen: Haben Sie reale Krisen, durch die wir auch im letzten Jahr gehen mussten, beim Schreiben beeinflusst und sind reale Ereignisse in die Arbeit eingeflossen?

Balthasar von Weymarn: Die groben Züge der Handlung standen ja bereits fest, als ich die Serie 2019 neu entwarf. Was mich beim Schreiben der 2. Staffel aber auf jeden Fall besonders mitgenommen hat, ist das Versagen der Gesellschaften weltweit, Krisen wie die Klimakatastrophe oder eben die COVID-Pandemie grenzübergreifend und konzertiert anzugehen. Es sieht so aus, dass vor der Frage, ob ein mittelfristiges Überleben der Menschheit wichtiger ist oder der kurzfristige Egoismus des Einzelnen, letzterer die Oberhand behält. Diesen Gedanken musste ich dann nur noch bis zur bitteren Konsequenz weiter entwickeln: Wie lebt der Mensch mit anderen Menschen (nicht) zusammen, wenn es nichts mehr zu verteilen gibt? Und daraus entstanden dann das Zusammenleben der Wallianer und die Isolation von Lois.

RB: Rhiannon, ihre weibliche Protagonistin, wirkte in der ersten Staffel als Getriebene, die auf eine waghalsige Reise geschickt wurde. Nun macht sie auf mich einen deutlich reiferen Eindruck, wodurch sie nicht nur an Profil gewinnt, sondern auch freier agiert. Sie wächst durch die existenziellen Bedrohungen geradezu über sich hinaus. Das macht Hoffnung. Was gibt Ihrer Figur diese Kraft und den Optimismus? Und glauben Sie, dass es einen Unterschied macht, dass Rhiannon noch eine Jugendliche ist?

BvW: Rhiannon war ja als Kind sicher zehn Jahre ohne Eltern gewesen. Ihre Orientierung hat sie aus Krzysztofs streng geregelter Koloniewelt bezogen, und aus diesem Kokon war sie herausgeworfen worden. Sie konnte also nicht anders, als sich flexibel den neuen Situationen anzupassen. Mit den Wochen und ihrer Entscheidungsfreiheit da draußen war sicherlich ihre Überzeugung gewachsen, dass gut sei, wenn sie ihrem eigenen Selbst folgt. Drei Menschen haben sie dabei positiv geprägt: Ranger und die Art, wie er am Ende der 1. Staffel gehandelt hat; ihr Vater Jerome, und dass es Rhiannon schließlich möglich ist, gleichzeitig gut und schlecht über sein Handeln zu denken; und zuletzt Lois, die um der Zukunft willen bereit werden musste, das sichere Schneckenhäuschen ihres Denkens zu verlassen. Diese Bereitschaft ist ein Merkmal jugendlichen Denkens. Dieses Denken ist aber keine Frage des biologischen Alters, sondern innerer Beweglichkeit. Und wenn ich diese Beweglichkeit bei älteren Menschen spüre, gibt mir das Hoffnung. Hoffnung, dass Initiativen wie „Fridays for Future“ nicht zwangsläufig daran scheitern müssen, dass die Entscheider in der Politik nun mal zu alt, zu bequem und zu lobbygesteuert sind. Mehr junge Menschen an den Schalthebeln würde helfen. Deswegen ist meine Heldin Rhiannon trotz der düsteren Geschichte ein Ruf an die jungen Menschen, nicht zu resignieren. Wenn Ihr diese Welt nicht wollt, die „Und auf Erden Stille“ beschreibt, bleibt unerbittlich und kämpft!

RB: Sehr spannend zu hören war die bunte Palette an Verhaltensmustern, die Sie in Ihrer Welt von „Und auf Erden Stille – Staffel 2“ darstellen. Um das an einem Gegensatz zu verdeutlichen: Die eine isoliert sich umgeben von einer Selbstschussanlage, hortet Lebensmittel und erfreut sich an einem ganz persönlichen Schatz alter Musikstücke. Eine andere führt eine kriegerische Gruppierung an, übt sich in blutigen Machetenkämpfen und glaubt allein an das Recht der Stärkeren. Wie kamen Sie auf diese episodenhaften Szenen?

BvW: Um unter Wallianern zu überleben, musst du ohne Mitgefühl härter und grausamer als deine Gegner sein (Freunde gibt es in dieser Welt nicht). Um in Wallace zu überleben, musst du ebenso hart und empathiefrei sein, damit du das, was du als Vorrat an Lebensmitteln hast, für dich alleine sicherst, ohne am schlechten Gewissen zu zerbrechen. Die Episoden sollten zeigen, wohin welcher Weg führt. Wie reagieren Wallianer wie Jen darauf, wenn es einem dreijährigen Kind beim Zündeln mit Benzin ein Bein abreißt? Wie reagiert Lois darauf, wenn ein zwölfjähriger Junge versucht, über die Mauer von Wallace zu kommen und die Selbstschussanlage anschlägt? Der Weg von Jen führt in eine Richtung, der Weg von Lois in eine andere. So etwas erzählt sich nicht in einer Diskussion zwischen zwei Charakteren, sondern im Handeln. Und so entstanden diese Szenen.

RB: Apropos Episoden: Im letzten Interview sagten Sie, dass die Veröffentlichung einer kompletten Staffel mit den Serien-Konsumgewohnheiten zu tun habe und Serien bei Netflix & Co gerne komplett am Stück veröffentlicht werden. Wie sehen Sie die Zukunft von Hörspielen? Sind Hörspiele auch Konsumgüter geworden, anstatt dass Hörerinnen und Hörer – wie etwa bei „Paul Temple“ – Woche für Woche gebannt vor dem Radio Platz nehmen?

BvW: Definitiv ja. Das Bingewatching gab es zwar schon vor Netflix, etwa wenn US-Serien in Deutschland als Staffelboxen auf DVD veröffentlicht wurden, aber zur Gewohnheit ist es erst jetzt geworden. Die Geduld fehlt, eine Woche zu warten: „Ich will jetzt wissen, wie es weiter geht“. Und dann kann ich es loslassen und mich der nächsten Sache zuwenden. Das mag man gut finden oder nicht, so werden Serien inzwischen erlebt und so freut man sich auf sie.

RB: Haben Sie Hörempfehlungen für Fans von dystopischer Science-Fiction?

BvW: Ich hätte mich der Dystopie wohl nicht zugewandt, wenn mir diese spezielle Geschichte nicht so wichtig gewesen wäre. Lieber würde ich hoffnungsvolle Stories erzählen, die zeigen, was im Menschen noch an positiver Entwicklung steckt. Von daher bin ich sicher nicht der beste Kenner und damit Ratgeber in dieser Frage.

RB: Welche Werke oder Autoren haben Sie in Ihrer Karriere beeinflusst?

BvW: Sicher war die Hörspielarbeit an Nikolai von Michalewskys „Mark Brandis“ eine wichtige Schmiede für das eigene textliche Handwerk. Von Hemingway versuche ich zu lernen, mit wenig Adjektiven zu arbeiten. Was meine Weltsicht angeht, hat mich Spider Robinson beeinflusst. Ein Vorbild, von dem ich nicht einmal zu träumen wage, es jemals zu erreichen, ist Theodore Sturgeon. Ich kenne keinen Schriftsteller, der die Essenz des Mensch-Seins so auf den Punkt gebracht hat wie dieser Autor mit seinen Kurzgeschichten.

RB: Besonders gut gefallen hat mir, dass die finale 2. Staffel offene Handlungsfäden gekonnt zusammenfügt und mit der 1. Staffel nun ein in sich abgeschlossenes Hörerlebnis vorliegt. Ist es Ihnen schwer gefallen, den liebgewonnenen Charakteren nicht doch noch eine 3. Staffel zu widmen? Haben Sie ein neues Projekt, das Sie bereits verraten dürfen?

BvW: Oh, natürlich gäbe es in dieser Welt noch eine Menge zu erzählen. Sei es, Rhiannon noch einmal wiederzusehen, oder neuen Heldinnen und Helden zu folgen. Von daher: Sag niemals nie. Wer sich weitere Geschichten in dieser Welt wünscht: info@folgenreich.de! Ich bin gerade mit den Sprachaufnahmen eines neuen Projektes beschäftigt, das in einer völlig anderen Zeit spielt und nichts mit der Zukunft zu tun hat. Darüber darf ich aber exakt noch gar nichts enthüllen.

RB: Die letzten Fragen widmen sich dem Abspann von „Und auf Erden Stille – Staffel 2“. Dort habe ich gehört, dass Sie selbst eine Sprechrolle übernommen haben. Wie kam es dazu und haben Sie eine Lieblingsfigur in „Und auf Erden Stille“? Wenn ja, warum?

BvW: Den Brooks habe ich übernommen, weil wir kurz vor knapp noch keinen Sprecher dafür gefunden hatten und die Rolle auch nicht so komplex ist. Neben meiner Heldin Rhiannon habe ich auch ihren Vater als Figur gerne, eben weil er ein so zersplittertes Bild in ihr hinterlässt. Gerade die Sehnsucht nach Nähe zu einem Elternteil kann ich gut nachempfinden, und die wird es immer geben, in der Vergangenheit oder in der Zukunft.

RB: Vielen Dank Balthasar! Ich hoffe, wir konnten vielen Interessierten einen Einblick in die „Welt der Hörspiele“ geben und alle Hörerinnen und Hörer von „Und auf Erden Stille“ mit spannenden Hintergrundinformationen versorgen.