Tainted Grail – Der Niedergang Avalons

Es sind die Menhire, diese geheimnisvollen Statuen, die uns Menschen in Avalon noch Sicherheit bieten. Doch wenn sie verlöschen, versinkt Avalon unwiederbringlich in der Dunkelheit der Wyrdnis. In ihr warten Tod und Wahnsinn. Avalons Licht droht für immer zu verlöschen.

von Oli Clemens

Die Spielbox von „Tainted Grail“ ist voluminös und schwer! Das ist eigentlich auch nicht verwunderlich, denn in ihr liegt das Spielmaterial für das mystische Land Avalon, das wir Stück für Stück erkunden werden. Oder sollte ich besser sagen Karte für Karte, denn wir bewegen uns durch eine Welt aus Landschaftskarten. Dabei sind die Orte, die wir ansteuern, anfänglich noch verdeckt und legen ihre Geheimnisse erst im Verlauf unserer Reise dar. Diese Mechanik kennen wir von Spielen wie beispielsweise „The 7th Continent“. Mit jedem Schritt erkunden wir nicht nur neue Gegenden, sondern prügeln uns mit Feinden gleichsam mit Waffen, aber auch den Mitteln der Diplomatie um das blanke Überleben. Was wir auf unsere Reise entdecken werden, verrät uns ein dickes, spiralgebundenes Abenteuerbuch mit knapp 800 Einträgen, das fast ein Kilo wiegt. Für Lektüre ist also reichlich gesorgt.

In „Tainted Grail“ verkörpern einen der vier spielbaren Charaktere. Da ist Beor, der gleichsam starke und ungeduldige Schmied. Ailei kennt sich mit heilsamen Kräutern und Wurzeln aus. Dann stehen noch Wurm, der Druide, und Arev, der Söldner, zur Wahl. Keiner von ihnen ist ein strahlender Held, allen wurde eine dunkle Hintergrundgeschichte mitgegeben. Selbstzerstörerische Sucht, eine unheilbare Wunde, Leben mit einem Fluch – die Wahl des richtigen Charakters ist in „Tainted Grail“ gar nicht so einfach. Da alle Charaktere unterschiedliche Startvoraussetzungen und Fähigkeiten besitzen, sollte man sich mit der Frage Zeit lassen, in wessen Hände man das Schicksal Avalons geben möchte.



Haben wir uns dann doch entschieden, bekommen wir ein Spieltableau, auf dem wir gleich unsere Startwerte festlegen. Da gibt es Energie und Furcht, Startattribute sowie Startressourcen. Die Anzeigen dafür bekommen wir mir kleinen, roten Steinchen hin. Das sind Universalmarker, die in Aussparungen eingelegt werden. Außerdem hilft uns ein T-förmiger Schieber, unsere Gesundheit zu managen. Alle erhalten dann noch ein Set von Kampf- und Diplomatie-Karten. Mein persönlicher Spielbereich bleibt überschaubar strukturiert, das mag ich!

Dann geht es auch direkt rein in die Kampagne und wir bauen den Startort auf. Dazu werden Karten auf dem Tisch ausgelegt, aus denen sich in vielen Stunden des Spielens eine Landkarte voller Geheimnisse, Begegnungen und harter Entscheidungen entpuppen wird. Der Aufbau geht wirklich zügig von der Hand, denn die eigentliche Spielfläche wird sich ja erst im Laufe der nächsten Stunden - und möglicherweise - Tage entwickeln. „Tainted Grail“ ist kein Spiel für mal schnell zwischendurch.

An unserem Start steht ein Menhir. Das ist eine knapp 10 Zentimeter große und durchaus Angst einflößende Miniatur. Nur in seiner Nähe, und solange er aktiv ist, sind wir sicher. In seinen Sockel wird eine Zählscheibe eingelegt wird, die Werte von 8 bis 1 zeigt. Solange man noch einen Wert sieht, ist unser Abenteurerleben noch in Ordnung, doch so ein Menhir wird erlöschen. Dann müssen wir uns mit den Auswirkungen der Wyrdnis rumplagen. Und die macht es uns nicht leicht, überleben zu können.



Insgesamt 15 Kapitel warten darauf, von uns erkundet und erlebt zu werden. Sehr oft treffen wir harte Entscheidungen und fragen uns, ob es wohl die richtige gewesen sein wird. Und immer mehr tauchen wir in eine düstere und mystische Geschichte hinein, erleben Glück und Leid und sollten unbedingt alles intensiv erkunden. So kann sich eine komplexe Story entwickeln, die einem großen Fantasy-Roman zum Selbsterleben gleicht.

Die Kämpfe gegen die Monster sind anfänglich echt stramm, und Scheitern gehört bei „Tainted Grail“ ebenso zum Spiel, wie das Aufleveln des eigenen Charakters. Je mehr ich mich entwickele, desto besser passe ich mich aber den Gefahren an. Dabei droht dem Spiel auch aus einer anderen Quelle ein Frustpotenzial. Aus einer zielstrebigen Heldenmission kann eine verwirrende Irrfahrt durch die immer größer werdende Landschaft werden. Auch kann es sein, dass sich einzelne Kampagnen scheinbar endlos ziehen und in einer Sitzung gar nicht zu spielen sind. Wer „Tainted Grail“ aufbaut, sollte also Zeit haben. Zum Glück bietet das Spiel da eine Speicherfunktion, die echt gut funktioniert. Prädestiniert sind aber natürlich die Leute, die einen Spieltisch haben, an dem einfach alles liegen bleiben kann, bis das Abenteuer weitergespielt wird. Es warten also mehrere Tage immersiven Spielens auf euch, das aber sehr belohnende Momente für euch parat haben wird.



In der Spielbox hat alles seinen Platz. Ein prima Inlay sorgt dafür, dass alles bestens an seinem Platz verstaut ist. Vor allem findet ihr Karten vor, die ihr selbstverständlich sleeven könnt, wenn ihr möchtet. Selbst dann werdet ihr noch genug Platz haben. Die 8 Minis sind in dem altbekannten und zweifellos unvorteilhaften Grau, das wir alle kennen. Leute, die gerne malen, ändern das sicher schnell. Wirklich alles richtig gemacht wurde bei den Spieltableaus. Das sind Double-Layer-Boards, in welche die Universalmarker eingesetzt werden können. Da rutsch nichts hin und her und die aktuellen Werte können immer unproblematisch eingesehen werden. Das Material ist insgesamt sehr hochwertig und robust.

Nicht so glücklich war ich allerdings mit den Regeln. 24 klein bedruckte Seiten braucht es, um den Ablauf des Expertenspiels zu erklären. Das hat mich anfänglich abgeschreckt. Und als ich es dann doch gewagt hatte, fand ich die Regelerklärungen nicht immer eingängig. Sehr gemocht habe ich aber das Solo-Abenteuer mit Beor, dem Schmied, das mir die wichtigsten Schnellstartregeln erklärt hat. Nach 60 bis 90 Minuten ist man da durch und fühlt sich danach sicherer. Ein Regelvideo auf Youtube zur Absicherung hat mir nicht geschadet. Viel besser habe ich mich im Buch der Entdeckungen zurecht gefunden. Dort werden mir in der Regel mehrere Optionen oder eine Alternative angeboten, die von meiner bisherigen Spielprogression abhängt. So wie ich mich entscheide, werde ich an einem leicht auffindbaren Absatz weitergeleitet, den ich abhandele.

Mein Erlebnis mit „Tainted Grail“ war bislang wie die bekannte Schachtel mit Pralinen. Ich hatte großartige Stunden, in denen ich mich völlig in dieser phantastischen Welt verloren habe und meine Eindrücke mit in den Schlaf genommen habe. Gleichzeitig hat mich die Menge an Regeln lange abgeschreckt, den Schritt ins düstere Avalon zu wagen. Zum Glück ist es um meine Frustrationstoleranz gut bestellt, denn ich musste auf meinen bisherigen Abenteuern einige niederschmetternde Spielmomente verarbeiten.



Am meisten Spaß hat mir „Tainted Grail“ zu zweit oder alleine gemacht. Dann bleibt das Spiel flüssig und die anderen müssen nicht auf mich warten. Denn wenngleich wir eine Gruppe von Abenteurern darstellen, die gemeinsam unterwegs sind, gibt es viele Momente, in denen ich alleine aktiv bin, etwa beim Abhandeln eines Kampfs.

Alles in allem steht bei vor allem das Erlebnis im Vordergrund, bei dem ich das Gefühl habe, dass ich alles, aber auch alles erleben will, was sich mir bietet. Denn hinter jeder Entscheidung kann eine neue Überraschung warten. Und obwohl ich die Kampagne noch nicht komplett beendet habe, erwische ich mich bei dem Gedanken, Avalons unentdeckte Handlungsstränge mit einem der anderen Charaktere in einem zweiten Durchlauf entdecken zu wollen.

Fazit: „Tainted Grail“ ist ein Ungetüm von einem Spiel. Die Spielbox ist schwer und riesig, das Spielmaterial umfangreich, die Regeln machen einem den Einstieg nicht leicht. Aber hat man sich erst einmal durchgekämpft, erwartet einen eine spannende Kampagne, die an einen Fantasy-Roman erinnert. Dabei liegen Lust und Frust beim Spielen gelegentlich nah beieinander, vor allem aber herrscht die Neugierde vor, möglichst alles erleben zu wollen, was dieses eindrucksvolle Fantasy-Spiel zu bieten hat. Am Besten solo oder zu zweit.

Tainted Grail – Der Niedergang Avalons
Brettspiel für 1 bis 4 Spieler ab 12 Jahren
Krzysztof Piskorski, Marcin Swierkot
Pegasus Spiele 2020
EAN: 4250231726323
Sprache: Deutsch
Preis: EUR 139,00

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