Spycraft Roleplaying Game 2.0

Als Regelwerk mit noch nie da gewesener Flexibilität und Nützlichkeit für alle modernen Genres, Settings oder Storylines preist die Alderac Entertainment Group schon auf dem Rückcover des Buches „Spycraft 2.0“ in höchsten Tönen. Damit legt sich das „d20“-basierende Regelwerk die Latte selbst sehr hoch, doch dank 496 Seiten Umfang scheint es auf den ersten Blick durchaus möglich, dass das System hält, was es verspricht.

von Thomas Pichler

 

Apropos erste Blicke. Diese fallen in der Regel zuerst auf das Cover, bei dessen Illustration ich spontan an diverse Comic-Titel über moderne Abenteurer und Superspione denke, vor allem aus dem Hause Image Comics. Dies setzt sich auch beim Artwork im Inneren des Bandes fort, teilweise könnte ich schwören, die dargestellten Charaktere in Comics wie „Danger Girl“ oder „Stryke Force“ schon mal gesehen zu haben. Schon beim Durchblättern drängt sich daher der Verdacht auf, „Spycraft 2.0“ wolle das Nachspielen der Handlung solcher Comics, aber auch der von Filmen wie „Matrix“ oder Computerspielen wie „Tomb Raider“, erlauben.

Schon der einleitende Abschnitt „Introduction“ erhärtet diesen Verdacht mit kurzen Bemerkungen über mögliche Kampagnentypen. Zusätzlich gibt es in diesem Abschnitt, wie für Einleitungen von Rollenspiel-Regelwerken typisch, einen Kurzüberblick über benötigte Spielmaterialen, sowie einen Überblick darüber, was das „Spycraft 2.0“-Spiel von normalen OGL-„d20“-Systemen und von der eigenen Vorgänger-Version unterscheidet. Allerdings klingt das Ganze stellenweise etwas zu selbstbeweihräuchernd, was bei mir eine gewisse Skepsis auslöst.

Das Erste Kapitel „Character Creation“ besteht zum überwiegenden Teil aus einem typischen „d20“-Grundgerüst fürs Charaktersystem. Sechs Attribute und eine Klasse definieren den Charakter weitgehend; in späteren Kapitel genauer beschriebene Skills und Feats geben ihm Fleisch. Die Attribute, ganz klassisch Stärke, Geschicklichkeit, Konstitution, Weisheit, Charisma und Intelligenz, werden dabei grundsätzlich per Kaufsystem bestimmt, dem heutigen Trend zu faireren Charaktersystemen folgend.

Die Klassen sind natürlich ans Genre angepasst und entsprechen vielfach Archetypen aus Comic, Computerspiel, Film und Literatur. Anstelle des Diebes in „D&D“ tritt beispielsweise der „Intruder“, und nicht zuletzt dank der Illustration denke ich sofort an die Comic-Version von Catwoman. Der „Scientist“ entspricht diversen mehr oder weniger verrückten, aber brillanten Wissenschaftern, die nicht gerade Hacker sind. Der „Wheelman“ erinnert an Filme wie „The Fast and the Furious“ oder Games wie „Need for Speed“. Und der „Explorer“ wurde in allen Punkten außer interessanterweise der Beispielillustration eindeutig nach einer gewissen Lara Croft modelliert. Und auch bei den anderen zu Spielbeginn wählbaren Klassen sowie den Expert Classes für erfahrenere Charaktere bieten sich stets Vergleiche an. Es würde mich wundern, wenn jemand einen modernen Action-Charakter nachbauen will und in „Spycraft 2.0“ keine geeignete Klasse findet.

Etwas über den „d20“-Standard „D&D“ hinaus geht die Personalisierung der Charaktere dank einer Origin. Dieser Hintergrund gibt dem Charakter über ein Talent und eine Speciality Attributsänderungen, zusätzliche Feats oder andere Boni mit auf den Weg. Dazu kommen Interests, Hobbies, die keine definierten Werte haben, aber, wenn sie ins Spiel kommen sollten, Boni bringen. Außerdem gibt es noch Action Dice und Subplots, beides Spezialitäten des Systems.

Action Dice können für diverse Zwecke genutzt werden. Beim Verbessern von Würfelwürfen sollen sie ganz im Sinne eines cineastischen Spielstils helfen, das Unmögliche möglich zu machen, und bei der Spontanheilung von Charakteren zwischen Spielszenen erzeugen sie sowieso Hollywood-Effekte. Eher für einen realistischen Spielstil geeignet und somit etwas überraschend ist, dass besonders schlechte oder gute Würfe nur durch Ausgabe von Action Dice als kritischer Fehler oder Erfolg aktiviert werden. Endlich ist nicht mehr jeder natürliche 20er-Wurf ein kritischer Erfolg – davon würde so manches „d20“-System profitieren.

Subplots sollen helfen, das komplizierte Leben der Charaktere wiederzugeben. Sie repräsentieren Dinge wie die hin und wieder auftauchende ewige Jugendliebe, die Schulden beim Kredithai und dessen gelegentlich ausgesandte Schlägertrupps oder diesen lästigen Gedächtnisverlust über die zwei Tage neulich, nach denen die Agentin solche Kopfschmerzen hatte. Ein wenig „Seifenoper trifft absurden Hollywood-Plot“ für den Spieltisch eben. Allerdings kam mir bei den entsprechenden Regeln auch das erste Mal der Gedanke „System für Buchhalter“, was in weiterer Folge leider noch öfters vorkommen sollte.

Ein grundlegendes Problem hat das Charaktersystem aber. Es ist „d20“ und stufenbasierend, womit Charaktere schwach anfangen und zu Halbgöttern mutieren. Das ist für cineastische Kampagnen nicht wirklich passend, denn Leinwand-Helden fangen gut an und werden kaum besser, so wie beispielsweise James Bond und so, wie es „d20“ eben nicht wiedergeben kann.

Im zweiten Kapitel „Skills“ werden die Fertigkeiten, die Charaktere haben können, und ihre Funktionsweise im Spiel erläutert. Hier fallen einige, durchaus positive, Abweichungen vom regulären „d20“ auf. Zunächst ist ein natürlicher 20er bei einem Skill-Wurf kein automatischer Erfolg. Gut, etwas seltsam, dass gerade ein System für einen cineastischen Spielstil auf diese Idee kommt, aber gut ist sie trotzdem.

Angetan bin ich von der grundsätzlichen Ausarbeitung der Skills. Die meisten „Spycraft“-Skills sind in verschiedene Checks unterteilt, die in anderen „d20“-System eigenständige Skills wären. Die Checks sind dabei aber teils mit unterschiedlichen Attributen verknüpft, sodass ein Charakter unterschiedliche Erfolgsaussichten haben kann. Der Skill „Acrobatics“ beispielsweise enthält sowohl „Balance“ (DEX) als auch „Jump“ (STR). Somit hat jeder Akrobat Gleichgewichtsgefühl und kann Springen, nur kann ein geschickterer Akrobat ersteres besser und ein stärkerer letzteres.

Weniger erfreulich ist die weitere Ausarbeitung der Skills. Zumindest eine Viertelseite Text zu jedem noch so unwichtigen Check, drei Seiten Tabellen aller Checks mit diversen Informationen und Tags, Hilfstabellen zu etwa der Hälfte der Checks im Spiel und noch mal drei Seiten Tabelle darüber, welche Skills einen Synergy Bonus auf andere Checks geben, sind etwas viel und lassen wieder das Gefühl, ein System für Buchhalter in der Hand zu haben, aufkommen. Warum sich übrigens ein Fahrzeug besser per „Maneuver“ (Vehicle) fahren lässt, wenn man gut in „Intimidate“ (Einschüchtern) ist, ist mir schleierhaft, aber ein gutes Beispiel einer der kleinen Absurditäten, wie sie sich im ganzen Buch immer wieder finden lassen.

Ein wichtiger Teil des Kapitels sind schließlich die Complex Tasks. Deren Sinn ist es, komplexere, länger dauernde Handlungen nicht durch einen, sondern durch mehrere aufeinanderfolgende Skill-Würfe darzustellen, um Gewicht im Spiel vom Kampf auf andere Aspekte zu verlagern. Eine grundsätzlich noble Idee, aber ob das in Regeln zu fassen Sinn macht, scheint mir eher zweifelhaft. Gute Spielleiter kommen auf so etwas von selbst, schlechte können jetzt endlich auch abseits des Kampfes Rollenspiel zum Einführungskurs in Buchhaltung verwandeln.

Um die „Feats“, besondere Spezialitäten einzelner Charaktere, geht es im dritten Kapitel. Auf fast 40 Seiten werden über 200 Feats aus 13 Gruppen und ihre spieltechnischen Vorteile vorgestellt. Je nach Charakter und Kampagnenart werden dabei Feats aus verschiedenen Gruppen unterschiedlich interessant sein. Für Martial-Arts-Szenarien sind sicherlich „Unarmed Combat“-Feats die richtige Wahl, während für Kampagnen, in denen vor allem Stil zählt, „Style“-Feats das Richtige wären.

In diesem, vielleicht besten Kapitel des Buches finden sich übrigens jede Menge Anspielungen auf diverse Quellen, die bei der Entwicklung des Spiels berücksichtigt wurden. „This… Is My Boom Stick!“ als Feat für Schrotflinten-Spezialisten sollte den einen oder anderen an „Army of Darkness“ erinnern, zum „Fan Service“ als Stil brauche ich wohl gar nichts sagen, und wer die Joneses sind, die in der Beschreibung zu „Whip Basics“ erwähnt werden, sollte offensichtlich sein.

Das einzige Problem der Feats ist, denn „Spycraft 2.0“ ist eben doch „d20“, dass es wieder Mal viel zu viel Auswahl für viel zu wenige pro Charakter erlaubte Feats gibt. Grade bei „Spycraft“ muss ich sagen: Damit es wirklich rüberkommt wie im Film, bräuchten Charaktere einfach wesentlich mehr Feats, als ihnen standardmäßig zugestanden werden.

Die Ausrüstung der Charaktere ist das Thema des vierten Kapitels „Gear“, das durch Regeln zum Reichtum und Lebensstil der Charaktere eingeleitet wird. Wealth wird durch Klasse und Charisma-Bonus bestimmt, und abgeleitet werden den eigenen Prioritäten entsprechend Lifestyle, Possessions (Besitztümer) und Spending Cash (Bargeld).

Begeistert bin ich von diesen Regeln nicht, immerhin ist es dadurch so gut wie sicher, dass ein erststufiger Soldat aussieht wie ein Säufer aus dem Wohnwagenpark und vermutlich auch dort lebt. „D20“-Systeme tendieren ja generell dazu, dass erststufige Charaktere arme Schlucker sein müssen, die garantiert über kurz oder lang und nach einigen Stufen ultrareich werden, aber „Spycraft 2.0“ übertreibt in diesem Punkt endgültig.

Die Regeln dazu, wie Charaktere an Mission Gear kommen, sind hingegen toll durchdacht. Egal, ob Ausrüstung wie bei James Bond von einer Organisation gestellt wird (Faction) oder wie bei „Tomb Raider“ über private Kontakte kommt (Freelance), das fünfstufige Caliber-System hat einen positiven Effekt. Für die Rettung der Welt vor einem Superschurken mit Privatarmee machen die Organisation oder Sponsoren vielleicht auch mal einen Kampfhubschrauber und schwere MGs locker, für die Verfolgung eines kleinen Straßendiebs gibt es sicherlich nicht mehr als Mofa und eine Kleinkaliber-Pistole.

Die Ausrüstungsbeschreibungen selbst sind an Text recht knapp gehalten, dafür gibt es Tabellen. Viele Tabellen. Insgesamt über 40 Seiten an Tabellen, was selbst für Ausrüstungsregeln viel ist. Wieder einmal stelle ich mir die Frage, ob ich nicht ein System für Tabellenfetischisten und somit… ihr wisst schon… vor mir habe. Und wenn ich bedenke, welcher Teil davon auf Bewaffnung fällt, muss ich bezweifeln, ob „Spycraft 2.0“ wirklich so erpicht darauf ist, den Kampf anderen „d20“-Systemen gegenüber weniger spieldominierend zu machen.

Gerade das fünfte Kapitel „Combat“ ist in dieser Hinsicht hingegen ein Lichtblick. Die Beschreibung der Konzepte Vitality Points und Wound Points ist herrlich und passt zu cineastischen Kampagnen. Die an Stelle von Hit Points tretenden Vitality Points repräsentieren höchst cineastische, unglaubliche Gerade-Nicht-Treffer, wie sie in Film und Comic zu Tausenden vorkommen. Erst, wenn ein Charakter wirklich Wound Points verliert, fängt das Blut an zu fließen. Realistisch? Nein. Aber für einen cineastischen Spielstil passend und endlich mal ein vernünftiges Konzept dafür.

Die Kampfregeln an sich sind eigentlich knapp und präzise gehalten; dass das Kapitel überhaupt knapp an 30 Seiten füllt, liegt an zwei Dingen. Erstens werden diverse Arten von Spezial-Schaden von Säure über Hitze und Laser bis zu Vakuum kurz abgehandelt. Zweitens sind gut ein Drittel des Kapitels Beschreibungen einer Fülle an Actions, die Charaktere im Kampf ausführen können. Durch diese Auswahl sollte es tatsächlich möglich sein, fast jede Art von Hollywood-Action nachzuspielen.

Weniger begeistert mich das sechste Kapitel „Dramatic Conflicts“. Theoretisch soll das Kapitel helfen, das Spiel abseits vom Kampf interessanter zu machen, und präsentiert daher Regeln, wie man diverse Konflikte wie Verfolgungsjagden, Verhöre, Infiltrationen oder auch Verführungen mit diversen Taktiken und unter Verwendung vieler Skill-Würfe ausgestalten soll.

Praktisch, und das wird langsam auffallend, stellt sich mir die Frage: Kann besseres Rollenspiel durch mehr Tabellen und mehr Würfelwürfe auch noch abseits des Kampfes funktionieren? Sicher, die diversen Taktiken sind tolle Ideenlieferanten fürs Rollenspiel, aber ob es durch mehr numerischen Aufwand wirklich besser wird, halte ich für zweifelhaft. Abgesehen davon sind die Taktiken-Tabellen nicht mal wirklich gut. Die eigene Taktik beeinflusst nur den eigenen Erfolgswurf, unabhängig von der Gegentaktik. Da wäre mehr drin gewesen, auch mehr Anreiz, sich auf das System wirklich einzulassen.

Warum genau die zumindest als Ideenquelle guten Regeln zur Erschaffung diverser Organisationen ans Ende dieses Kapitels gehängt wurden, ist mir übrigens auch ein Rätsel. Logisch würden sie sich ins darauf folgende Kapitel jedenfalls deutlich besser einfügen.

Dieses siebente und letzte trägt nämlich den Titel „Game Control“ und enthält Regeln, die vor allem für den Spielleiter relevant sind. Wie man eine Mission für „Spycraft 2.0“ basteln soll zum Beispiel. Erstens braucht man den Threat Level, der sich aus der Stärke der Gruppe ergibt und die Stärke der Gegner bestimmt und der für die XP wichtig ist. Dann plant man die Intel Phase, in der die Charaktere erfahren, worum es geht, und sich ihre Missions-Ausrüstung wählen dürfen. Letzteres soll übrigens möglichst nur 10 Minuten dauern – spätestens jetzt vermute ich, dass wirklich sämtliche Playtester Buchhalter mit fotografischem Gedächtnis waren. Bei mir bekannten realen Gruppen sind die 10 Minuten jedenfalls illusorisch.

Dann werden die Scenes der Missionen geplant, die möglichst nicht zu viele, aber dafür klar definierte Objectives beinhalten sollten, denn nur klar definierte Objectives erlauben eine klare Kalkulation der XP. Dazu ebenso klare definierte Complications, denn, erraten, nur die erlauben eine klare Kalkulation der XP. Die in der Einleitung erwähnte License to Improvise scheint nur für klar geplante, kalkulierbare Improvisation gedacht zu sein, nicht für tatsächlich spontane. Langer Rede, kurzer Sinn: Ich entwickle immer stärkere Will-Nicht-Symptome, weil Spieler mit Nickelbrille, gescheiteltem Haar und in mausgrauen Anzügen vor meinen Augen um den Spieltisch tanzen.

Bei den NPC-Regeln ändert sich das auch nicht wirklich, denn ein „Spycraft 2.0“-NPC besteht aus Ratings, die ich erst entsprechend dem Threat Level mit einer Tabelle vergleichen muss, um Werte zu erhalten. Was das bringt? Nun, nach der System-Logik, dass man eine Mission mit Charakteren unterschiedlichster Erfahrungsstufen spielen kann. Dass dann bei starken Spielercharakteren irgendwann Hardcore-Megaelite-Kleinstadt-Streifenpolizisten auftauchen, weil die PCs sonst nicht gefordert würden, ist nur leider nicht mal mehr Hollywood-Logik, sondern ein Grad an Unrealismus, der einfach nur zu viel ist.

Fazit: Alles in allem ist „Spycraft 2.0“ eine sehr eigenartige Mischung. Großartige Ideen treffen auf buchhalterischen Müll, während eine grundlegende Tendenz zu cineastischem Spielstil manchmal in Anti-Realismus, bei dem sogar Hollywood schlecht würde, verläuft. Das grundlegende Konzept „besseres Rollenspiel durch besseres Würfelspiel“ ist absurd, auch wenn es in einigen sehr interessanten Passagen, die als Inspiration dienen können, resultiert. Ich würde gerne einige der vorgestellten Ideen nutzen, um Rollenspiel-Kampagnen zu verbessern, kann mir aber nicht vorstellen, tatsächlich die „Spycraft 2.0“-Regeln an sich zu nutzen. Allerdings könnte das eine Generationsfrage sein; das Regelwerk könnte jüngeren Spielern, die über zahlenschwere Computerspiele zum Rollenspiel gekommen sind, zugänglicher sein.

Dieser Artikel erschien usprünglich auf www.x-zine.de.


Spycraft Roleplaying Game 2.0
Grundregelwerk
Patrick Kapera, Scott Gearin, Alex Flagg u. a.
Alderac Entertainment Group 2005
ISBN: 1-594-72037-1
496 S., Hardcover, englisch
Preis: $ 39,95

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