Shadowrun 77: Der Schattenlehrling

In den Münchner Schatten nennen sie ihn Wet Boy und das ist längst nicht sein einziges Problem. Nein, Boris Weinert hat sich das freie Leben hier unter dem Radar entschieden anders vorgestellt und sieht sich nun mit der schmerzlichen Tatsache konfrontiert, dass Runner auch nur Menschen (oder Orks, Zwerge usw.) sind und auch ihnen längst nicht jeder Tag ein neues, cooles Highlight bietet. Dabei erleben die Runner aus seiner liebsten Tridserie doch immer Action und Abenteuer! Schwere Erkenntnisse für einen dreizehnjährigen Konzernsohn und Ausreißer...

von Christian Humberg

 

As seen on TV

Boris muss raus! Das steht für ihn fest. Die behütete, fast schon antiseptische Umgebung des Kons, in dem sein Vater arbeitet und auf dessen Gelände er sein bisheriges gesamtes Leben verbracht hat (wenn man mal von Urlauben in ähnlich sterilen Konzerngebieten absieht), widert ihn langsam aber deutlich an. Woanders, da pulsiert doch das Leben. Da kämpfen Runner wie sein Tridheld Viper gegen finstere Wirtschaftschurken und erobern reihenweise Frauenherzen, stets gut frisiert und mit coolem Spruch auf den Lippen. Das kennt er doch aus den Trids, aus "Viper". Hat er doch alles gesehen, verschlungen sogar. Verinnerlicht. Und hier muss er sich sogar noch die Hände waschen gehen, bevor Mutter ihn an den Essenstisch lässt.

Als Vaters Beruf die gesamte Familie kurzzeitig nach München bringt, sieht Boris seine Chance gekommen. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion schleicht er sich heimlich aus dem Hotel und in die Schatten, fest entschlossen, sich dort einen Namen zu machen und eine Existenz aufzubauen. Genügend Startkapital hat er dank eines großzügigen Griffs in Papas Tresor dabei und über das nötige Fachwissen, so glaubt Boris, verfügt er aufgrund intensiver "Viper"-Studien ohnehin. Und während die entsetzten Eltern auf der nächtlichen Suche nach dem kleinen Ausreißer schnell in falsche Gesellschaft und unter die Erde geraten, schließt sich Boris, nun a.k.a. Wet Boy, nur wenige Straßen weiter in einer Schattenkneipe ganz blauäugig einer erfolglosen kleinen Runnergruppe an. Als Azubi.

Kommt ein Runner zur Berufsschule...

Für Theseus, Cinque und Key, die erwähnten erfolglosen Runner, ist dieser Dreikäsehoch ein gefundenes Fressen. Gute, lukrative Aufträge lassen schon seit einer ganzen Weile auf sich warten und diese naive offensichtliche Konbrut Wet Boy hat ein paar schöne große Credsticks dabei und ist mehr als willens, ihnen davon was abzugeben. Dafür müssen sie ihn nur in die "hohe Kunst" des Shadowruns einführen. Das klingt lachhaft und albern für stolze Runnerhelden, aber Theseus & Co. sind nicht mehr jung und brauchen das Geld, sozusagen. Also wird der wissbegierige Knirps als Lehrling akzeptiert und darf seine neuen Chummer in den kommenden Tagen erstmal gründlich aushalten.

Doch nach und nach entwickeln sich Sympathien für Wet Boy. Insbesondere Theseus lernt, den Kleinen zu respektieren. Als ein erfolgloser Auftrag in einer Rufschädigung des gesamten Teams resultiert, hat Boris genug von dieser Losertruppe und haut abermals ab. Und muss feststellen, dass seine Chummers im Vergleich zu den restlichen Schatten noch die netten Leute waren. Zudem ist Papa Weinerts Firma hinter ihm her, denn in den gestohlenen Credsticks stecken verschlüsselte Daten, die nicht in fremde Hände fallen sollen. Und plötzlich haben Theseus & Co. einen neuen Auftrag: die Rettung ihres Lehrlings.

Neue Wege für Shadowrun

Boris Kochs "Schattenlehrling" ist, so macht auch Christian Lonsings Vorwort deutlich, der erste auf der neuen 4er-Edition des Regelwerks basierende "Shadowrun"-Roman, spielt also in der Welt nach dem großen Matrixcrash. Zudem kann (muss aber nicht) er dank der Münchner Verortung auch als Begleitroman zum Quellen- und Abenteuerband "München Noir" angesehen werden, der ebenfalls schon auf dem neuen Grundregelwerk basiert. Soviel zum Kontext, der für den Fan sicher nicht uninteressant, für denjenigen aber, der einfach auf der Suche nach begeisterndem Lesestoff ist, nicht weiter von Belang sein muss.

Boris Kochs Roman, sein erster im "Shadowrun"-Universum, ist nämlich auch auf literarischer Ebene ein reiner Volltreffer. Dem Autor gelingt es scheinbar spielend, eine sowohl interessante wie auch amüsante Geschichte zu erzählen, die auch jenseits der rein faktischen 4.01-Schiene wirklich innovativ ist. Kochs Wet Boy ist ein "Shadowrun"-Held, wie ihn die Welt vermutlich noch nicht gesehen hat, und seine kindisch-kindliche Erkundung des ihm nur aus romantisierten Unterhaltungsprogrammen bekannten Schattendaseins gleichermaßen spaßig wie erschreckend. Milieubeschreibungen, Figurenzeichnung und Dialoge sind stimmig und machen Lust auf mehr. Koch erweist sich als routinierter und gewiefter Geschichtenerzähler, dessen lebendiger Schreibstil wunderbar zu Thema und Umsetzung seines Romans passt.

Fazit: Mit "Der Schattenlehrling" legt FanPro einen Roman von Boris Koch vor, der neue Wege in der "Shadowrun"-Reihe betritt, ist er doch der erste auf Basis des neuen Grundregelwerks erschienene Band der Reihe. Koch erweist sich dabei als sehr kreativer und angenehm lebendig schreibender Autor, dessen Begeisterung für die Geschichte sich schnell auch auf den Leser überträgt. Dies ist definitiv ein Buch, das man nicht mehr aus der Hand legen möchte. Und es verdeutlicht genau, warum es im Fernsehen immer mal wieder heißt: Bitte nicht nachmachen.


Der Schattenlehrling (Shadowrun-Roman Nr. 77)
Rollenspiel-Roman
Boris Koch
Fantasy Productions 2006
ISBN: 3-89064-482-1
304 S., Taschenbuch, deutsch
Preis: EUR 9,00

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