Shadowrun 76: Böses Erwachen

Für einen Shadowrunner gibt es angenehmere Gewissheiten als die, dass er von einem Sektenkult als Opfer für die Wiedererweckung des finsteren Gottes Mot gehandelt wird. André Wieslers mehr als unüblicher Protagonist muss sich mit diesem Problem befassen sowie – und das gleich in doppelter Hinsicht – mit den Geistern der Vergangenheit.

von Christian Humberg

Zu Beginn ein Geständnis

Es ist schlicht unmöglich, diesen innovativen Roman angemessen zu rezensieren, ohne ihn zu spoilern. Daher möge es der Leser nachsehen, wenn die kommende Inhaltsangabe eher spärlich ausfällt – dies ist in keinster Weise dem Buch zu verschulden und geschieht nur zu seinem Besten. Im Gegenteil: Eine so unübliche und wirklich kreative Idee hat zumindest dieser Rezensent noch nicht gelesen, erst recht nicht, wenn sie auch noch dermaßen gelungen umgesetzt wird. Wer jetzt verwirrt ist, folge mir bitte zur Handlung. Alle anderen natürlich auch.

Zur Handlung

Leser von zweien der früheren Ausflüge des Wuppertaler Autors ins „Shadowrun“-Universum (die Rede ist von den Romanen „Feuerzauber“ und „Im Namen des Herrn“) werden an dieser Neuerscheinung besondere Freude haben, begegnen sie doch vielen Figuren aus den beiden Büchern erneut. Besonders schön ist es zu sehen, wie diese doch eher unterschiedlichen Charaktere aus der Problematik von „Böses Erwachen“ bedingt ein gemeinsames Team bilden und sich mehr und mehr aneinander gewöhnen, sich zum Teil sogar lieben lernen. Vor allem die Begegnung seiner früheren Protagonisten Kyon und Mark ist Wiesler mehr als gelungen.

Neu- und Gelegenheitsleser sollten sich von dieser Vorgeschichte aber nicht abschrecken lassen. Ob man nun nur einen oder gar keinen der Vorgängerromane gelesen hat, ist für das Verständnis und den Genuss dieses Buches nicht von Bedeutung. Wer die anderen Bücher kennt, bekommt durch die Querverweise und Figurenfortführungen zusätzlichen Lesespaß, Novizen lesen einfach einen wirklich verdammt guten Roman.

Denn es geht um einiges im „Shadowrun“-Universum. Ein geheimer Kult bemüht sich zum Zwecke der körperlichen Verjüngung darum, die Gottheit Mot zu erwecken, der zynische Runner Kyon sowie der Ex-Klosterbruder Mark werden von den Schatten ihrer jeweiligen Vergangenheit eingeholt und auch für die Freundeskreise der beiden genannten Helden hält die Zukunft einige böse Überraschungen bereit. André Wiesler taucht dabei tief in die Psyche seiner Figuren ein und verleiht ihnen dadurch gekonnt Plastizität und Realismus. „Böses Erwachen“ ist zweifellos ein denkwürdiger Roman in FanPros Reihe.

Für Herz und Hirn

Mit viel Sympathie für sein Personal führt Wiesler Kyon, Mark, Samael und all die anderen sicher durch den durchaus dichten Plot. Dabei verliert der Autor seine Handlungsziele nicht aus den Augen und vermag es auch, verschiedenste Erzählstränge mühelos längerfristig nebenher laufen zu lassen, ohne dass beim Leser Verwirrung entsteht. Ganz im Gegenteil ist diese Art des Geschichtenerzählens hier ganz klar mit am gelungenen Leseerlebnis beteiligt.

Erfrischend ehrlich und lebendig ist auch die Figurenzeichnung geraten, handeln und reden die Charaktere doch mitunter auf eine so... realistische Art und Weise, wie man sie als Phantastikleser nicht überall zu erwarten gelernt hat. Wieslers Leser können von diesem Werk wieder den gewohnt flüssigen und angenehm frischen Schreibstil erwarten, der auch die vorherigen Bücher auszeichnete. Selbst nach all den Geschehnissen aus „Böses Erwachen“ steckt man noch derartig in Wieslers Handlung fest, dass man eine weitere Fortsetzung (nicht, dass der Roman ein offenes Ende hätte) geradezu herbeisehnt, um noch weitere Zeit mit den Charakteren zu verbringen. Das mag jetzt alles sehr lobhudelnd klingen, ist aber (und überhaupt: was heißt hier „aber“?) völlig gerechtfertigt.

Fazit: Mit „Böses Erwachen“ legt FanPro abermals einen „Shadowrun“-Roman aus der Feder von André Wiesler vor. Dem Autor gelingt in diesem Werk das Kunststück, gleich zwei unterschiedliche Vorgängerromane fortzuführen, ohne dass die Romanhandlung für Nichtkenner der vorherigen Werke  zum echten Problem werden würde. Selbst „Shadowrun“-Laien dürften an diesem lebendigen und spannenden Buch Gefallen finden.


Böses Erwachen (Shadowrun-Roman Nr. 76)
Rollenspiel-Roman
André Wiesler
Fantasy Productions 2006
ISBN: 3-8906-4473-2
392 S., Taschenbuch, deutsch
Preis: EUR 9,00

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