Hunde im Garten des Herrn (Narrativa)

Ungewöhnliche Rollenspiele gibt es viele. Besonders seit es den Gratis-Rollenspieltag gibt, scheinen jede Menge neue Systeme auf dem Markt zu erscheinen. Doch auch schon früher wurde so manch neues Konzept vorgestellt, sei es vom Setting oder von den Regeln her. „Hunde im Garten des Herrn“ ist ein solch ungewohnter Ansatz.

von Adaon

 

Der Herr führte sein Volk ins gelobte Land. Doch auch hier muss es ihm die Treue halten, muss Sünde und Ketzerei vermeiden. Doch wenn die Arbeit hart ist, die Winter lang, kann aus Stolz Hochmut werden. Aus Hochmut wird Sünde, Unrecht entsteht und lockt die Dämonen an.

Die Wachhunde des Lebens, junge Männer und Frauen, die als kleine Gruppe vom Tempel ausgesandt werden, reisen durch das Land und von Stadt zu Stadt. Ihre Aufgabe ist es, das Unrecht zu bemerken, den Glauben aufrecht zu erhalten, Hochmut zu dämpfen, Sünde zu bestrafen. Sie sprechen Trost, sie heilen die Kranken, sie erschießen den Ketzer. Ihre Autorität ist nicht anzuzweifeln. Sie sind die Hunde im Garten des Herrn.

Dies ist die Position der Spieler in diesem Rollenspiel. Das Setting ist klar vorgegeben. Es handelt sich um ein großes Gebiet im wilden Westen, also den USA irgendwann um 18xx vor dem Bürgerkrieg, besiedelt von Gläubigen, die ihren Glauben frei von Unterdrückung und verderbten Einflüssen der „dekadenten“ Städte an der Ostküste ausleben wollen. Ackerbau und Viehzucht beschäftigt die Menschen in den kleinen, verteilten Orten. Die Positionen sind klar verteilt: Ein Mann darf mehrere Ehefrauen haben, jedoch nicht anders herum. Wichtige Positionen werden von Männern besetzt, es gibt einen Rat der Älteren. Die einzige Ausnahme sind die erwähnten „Hunde des Herrn“, bei dem es Männer und Frauen gibt, die hier auch beide gleich angesehen sind.

So weit, so klar. Doch in diesem System ist nicht nur das Setting bestimmt, auch der Abenteuer-Ablauf wird vorgegeben (oder zumindest deutlich vorgeschlagen): Ein Spielabend sollte in einer Stadt stattfinden. Das Prinzip entspricht dem einer TV-Reise-Serie, bei dem in jeder Folge ein anderer Ort aufgesucht wird (oder, wenn es ein wichtiger Ort ist, auch mal zwei Folgen lang ein Ort). Dies stellt den Spielleiter vor weitere Herausforderungen, wenn es darum geht diese Orte abwechslungsreich und die Begegnungen erinnerungswürdig zu gestalten. Im Gegensatz zu Reise-Serien wie „Star Gate“ oder „Sliders“ kann der Ort nicht einfach möglichst fremdartig und kulturell andersartig sein, da es sich ja um dieselbe Kultur und dasselbe Gebiet handelt. Hier wird Feinfühligkeit bei der Ausarbeitung der NSC vonnöten sein.

Außergewöhnlich sind auch die Regeln dieses Systems. Zunächst werden den Attributen und Fertigkeiten eines Charakters Würfel zugewiesen, die von einem bis mehreren W4 bis W10 reichen können; auch Gegenstände, die man besitzen kann, haben Würfel. In einer Situation, die es erfordert, sucht man sich die passenden Würfel aus, z.B. für eine Kletternprobe: 3W6 für den Körper, 4W6 für den Willen. Das Ungewöhnliche liegt nun im Ablauf einer Probe: Alle Würfel werden geworfen, in ihrer Höhe sortiert, und man beginnt, indem man mit zwei Würfeln „erhöht“. Dann „wehrt“ sich das Ziel, in diesem Fall die Felswand, mit den eigenen Würfeln und muss dabei das vorgegebene Ergebnis erreichen oder überschreiten. Das reicht von W4 für kleine und/oder einfache Sachen bis W10 für üble Dinge wie Schusswaffen.

Die Würfelzahl wird erhöht für besondere Gegenstände. Eine Felswand, die recht glatt ist, wäre also beispielsweise zwei oder drei W8 wert. Der Spieler beginnt also beispielsweise mit 6 und 3. Die Felswand muss zumindest „mitgehen“, also die 9 erreichen, und dann eventuell „erhöhen“, also Würfel hinzufügen. Da sie das nur begrenzt tun kann, wenn der Spieler entsprechend viele Würfel hat, wäre das Ganze zu einfach. Also kann der Spielleiter noch einen bestimmten Würfelpool hinzufügen, und zwar für „dämonischen Einfluss“. 1 bis 5 W10 werden hinzugefügt, je nachdem wie schlimm es in der Gegend, in der die Spieler sind, gerade steht – vorausgesetzt, sie haben bereits herausgefunden, dass es Probleme gibt und wie schlimm diese sind!

Je mehr sich die Spieler also mit den Schwierigkeiten einer Stadt auseinandersetzen, desto schlimmer wird es für sie; vorausgesetzt, der Spielleiter möchte die Schwierigkeit so hoch angesetzt sehen. Sagen wir, hier gilt nur 1 W10. Die W8 haben 7, 3 und 2 ergeben, kann also mit der 9 des Spielers mithalten. Die Wand erhöht danach mit der 3 und dem W10 und kommt mit weiteren 5 auf eine 17. Der Spieler muss nun mit seinen geworfenen Ergebnissen diese 17 erreichen, und dann nochmals erhöhen. Dann hat er diese Herausforderung geschafft.

Gegen lebende Gegner sieht die Sache nochmals anders aus. Menschen können einen Konflikt eskalieren lassen, von einer verbalen zu einer körperlichen Auseinandersetzung, zu einer Messerstecherei bis hin zum Schusswaffengebrauch. So kommen zu den ursprünglichen Würfeln immer mehr hinzu, bis eine Seite den Konflikt gewinnt – oder sich entscheidet, den Konflikt aufzugeben. Denn auch darum geht es: Nicht immer bis zum Äußersten zu gehen, sondern auch mal nachzugeben. Die letzte Erhöhung des Gegners zählt nicht, da man diesen Angriff vermieden hat. Und im Spiel darf man nach dem Aufgeben den höchsten Würfel der einem noch verblieben ist, für den nächsten Konflikt, der auf diesem Konflikt folgt, auf die Seite legen und zusätzlich einsetzen, da man den Konflikt zu den eigenen Bedingungen beendet hat. Doch da alles Konsequenzen hat, muss man nach dem Aufgeben auch würfeln, ob sich negative Folgen für den Charakter ergeben. Und je weiter man den Konflikt getrieben hat, desto mehr und höhere Würfel werden geworfen. Und je höher dieses Ergebnis ist ... nun, sagen wir es so: Es gibt keine Trefferpunkte.

Der nächste ungewöhnliche Ansatz ist, dass der Text den Spielleiter auffordert, bewusst bei der Entwicklung eines Abenteuers nicht ins Detail zu gehen. Anstatt ein Abenteuer oder einen Ort durchzuplanen, soll der Spielleiter lediglich die Szenerie im Groben entwerfen, und im Laufe des Spiels auch die Spieler bei der Gestaltung der NSC und ihren Verhaltens mit einbeziehen; der Spielleiter sollte also direkt fragen „Was empfindet ihr hier als sinnvoll? Warum hat der Bürgermeister einen verschlossenen Keller?“ und die Geschichte so gemeinsam mit den Spielern schreiben, anstatt wie sonst die Welt in möglichst großem Detail zu repräsentieren, in welcher die Spieler möglichst frei handeln können, aber nur über ihren eigenen Charakter bestimmen. Der Spielleiter soll also keine Abläufe planen und kein gesetztes Ziel anstreben, sondern die Situation vor Ort den Spielern schildern und von da an einfach miterleben, wie die Spieler mit der Geschichte umgehen. Damit haben die Spieler ein sehr großes Mitspracherecht im laufenden Spiel – wobei die endgültigen Entscheidungen für das Verhalten der NSC natürlich beim Spielleiter liegen.

Um dies umzusetzen, werden im Regelwerk auch ausführliche Beispiele geliefert. Und damit es auch zum Spiel kommt, wird der Spielleiter ausdrücklich aufgefordert, das Spiel auf Konflikte zuzutreiben, die von den Spielern dann – auf die eine oder andere Art – gelöst werden müssen. Und wenn ein Konflikt auftritt, sollte der Spielleiter diesen eskalieren lassen, solange es Sinn macht. Es geht in „Hunde im Garten des Herrn“ also nicht um große Bösewichte, um fette Explosionen, um rätselhafte Kulturen oder um die perfekte Mission. Es geht um das alltägliche Leben in einer kleinen Stadt, in der irgendetwas nicht stimmt. Die Charaktere der Spieler haben den Auftrag, die Stadt besser zurückzulassen, als sie sie vorgefunden haben. Doch wie sie das erreichen, soll ihnen überlassen bleiben. Wenn ein NSC nicht reden will und sich an einem Spielercharakter vorbeischiebt, den Konflikt also auf die körperliche Ebene steigert, wie reagiert dann der Charakter? Was, wenn es ein Verwandter von ihm ist?

Zum Ende des Regelwerkes wird ausführlich auf die Art eingegangen, dieses System zu leiten, und es wird sehr viel Hilfestellung gegeben. Auf über 40 Seiten Anhang finden sich häufige Fragen und Antworten dazu, Hilfestellungen bei bekannten Problemen, ausführliche Beschreibungen möglicher Probleme für den Spielleiter und die Charaktere – kurz: Das Regelwerk weckt hier Lust auf das Spiel und hilft dabei, das Konzept von „Hunde im Garten des Herrn“ so umzusetzen, wie der Autor es vorgesehen hat.

Erhältlich ist das Grundregelwerk als PDF und als auf 300 Exemplare limitierte Luxus-Ausgabe in Leder gebunden und mit zahlreichen Würfeln. Der Preis dafür ist zumindest auf Amazon derzeit erstaunlich günstig (Link folgen).

Fazit: Ein interessantes System, dessen langfristige Spielbarkeit sehr von der jeweiligen Gruppe abhängt. Ist der Reiz des neuen Systems nach einigen Sitzungen verklungen, könnte sich schnell ein Gefühl von Gewohnheit breitmachen. Der Schwerpunkt liegt hier wirklich auf der Menschlichkeit und den Beziehungen der Charaktere, sowohl SC und NSC, untereinander. Für ein rasches Zwischendurch-Abenteuer, gerade auf einer Convention, ist das Konzept etwas zu breit angelegt, besonders von den Regeln und der Charaktererschaffung mit der Gruppe zusammen her. Während man für eine Convention normalerweise fertige Charaktere stellen kann, wären diese in „Hunde im Garten des Herrn“ dann zusammen mit dem Setting etwas zu einfach für erfahrene Spieler, und eine etwas zu große Herausforderung für Rollenspiel-Anfänger. So bleibt ein guter Eindruck, der jedoch von jedem potentiellen Käufer selbst überprüft werden sollte.


Hunde im Garten des Herrn (Narrativa)
Grundregelwerk
D. Vincent Baker
Ulisses Spiele 2014
ISBN: 978-3-95752-779-0
192 S., Softcover, deutsch
Preis: EUR 79,95

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