H. P. Lovecrafts Der Schatten aus der Zeit

Ich will als Einführung ein Zitat von H. P. Lovecraft von 1935 voranstellen: „Urzeitliche Mythen und moderne Wahnvorstellungen stimmten in der Annahme überein, dass die Menschheit nur eine – und vielleicht die geringste – der hoch entwickelten, dominanten Rassen in der langen und weitgehend unerforschten Geschichte dieses Planeten sei. Wesen von unvorstellbarer Gestalt, so deuteten sie an, hatten in den Himmel ragende Türme erbaut und jedes Geheimnis der Natur enträtselt, bevor der erste amphibische Vorfahr des Menschen vor drei Millionen Jahren aus der heißen See gekrochen kam.“

von Markus Kolbeck

Der Manga „H. P. Lovecrafts Der Schatten aus der Zeit“ geht auf eine Originalgeschichte von Lovecraft namens „The Shadow out of Time“ (1934/35) zurück, die von Gou Tanabe als Horror-Manga adaptiert wurde. Obwohl es ein Manga ist, ist der Band eindeutig im westlichen Comic-Stil gehalten! Der 361-seitige Softcover-Band ist 2021 bei Carlsen Manga zum Preis von 22,- € erschienen. Der Manga ist – bis auf ein paar Seiten im Vordruck und im Vorwort – komplett in Schwarz-Weiß-Zeichnungen gehalten. Er lässt sich in knapp zwei Stunden durchlesen.

Leserichtung

Da „Der Schatten aus der Zeit“ ein Manga ist, liest man entgegen den bisherigen Lesegewohnheiten von hinten nach vorne und die Seiten einschließlich der Panels von rechts nach links. Man liest aber weiterhin von oben nach unten.

Der Originalautor

Howard Phillips Lovecraft (1890-1937) war ein US-amerikanischer Autor unheimlich-phantastischer Geschichten und hat unter anderem in „Weird Tales“, dem US-amerikanischen Pulp-Magazin veröffentlicht. Er hat den sogenannten „Cthulhu-Mythos“ erfunden, ferner die fiktiven Städte Arkham, Kingsport, Dunwich und Innsmouth, die Miscatonic-Universität, den fiktiven, sagenumwobenen Folianten „Necronomicon“, Kreaturen wie Ältere Wesen und Tiefe Wesen, außerdem ein Pantheon von Großen Alten wie den legendären Cthulhu und und die Äußeren Götter. Der Horror-Autor hat in seinem relativ kurzen Leben 102 Kurzromane, Erzählungen, Kurzgeschichten und Zusammenarbeiten verfasst, war aber zeitlebens weithin unbekannt. Erst in den letzten Jahrzehnten ist Lovecraft zu großem Ruhm und zu großer Anerkennung gelangt, auch bei uns.

Der Zeichner und Texter

Der Japaner Gou Tanabe, geboren 1975 in Tokio, ist für seine Adaptionen literarischer Vorlagen bekannt geworden. Seit 2004 ist er mit einer Adaption von der Lovecraft-Geschichte „Der Außenseiter“ in Umsetzungen von Lovecrafts Werken eingestiegen. Es sind bereits mehrere Bände davon bei Carlsen Manga veröffentlicht worden.

Inhalt

Nathaniel Wingate Peaslee, Professor für Wirtschaft an der Miscatonic-Universität in Arkham, Massachusetts, USA, hält im Mai 1908 einen Vortrag vor seinen Studenten. Er wird ohnmächtig und wacht fünfeinhalb Jahre danach wieder auf. Er leidet an einem mysteriösen Gedächtnisschwund, was die letzten Jahre seit seiner Ohnmacht betrifft. Er rekonstruiert, dass er damals einen Tag später wieder aufgewacht ist, Unsinn geredet hat und sich erst wieder in seinem Körper zurechtfinden musste. Er hat dann alles mögliche von Interesse an verschiedenen Universitäten studiert, alte Folianten gewälzt, mehrere Sprachen gelernt und die Welt bereist. An alles das kann er sich aber nicht mehr erinnern! Er stellt über die Jahre Nachforschungen an und kommt gänzlich fremdartigen Wesen, der Großen Rasse von Yith, auf die Spur und versucht, ihr Geheimnis zu enträtseln. Er reist schließlich mit einer Expedition im Juli 1935 nach Westaustralien und findet seine Befürchtungen bestätigt!

Kritik

Als erstes fällt einem der Zeichenstil der schwarz-weißen Abbildungen auf. Die Zeichnungen sind mit viel Liebe zum Detail angefertigt worden und fangen die Mysteriösität und angespannte Stimmung der Geschichte nahezu perfekt ein, etwa durch gekonnte Darstellung der Gesichtsausdrücke der handelnden Personen. Die Anfertigung der Zeichnungen muss Tanabe viel Mühe gekostet haben – sie sind äußerst gelungen und tragen viel zum positiven Gesamteindruck bei. Die Bildergeschichte ist keine Eins-zu-Eins-Umsetzung von Lovecrafts Erzählung, sondern deutet hin und wieder auch etwas kreativ aus. So werden im letzten Drittel Erinnerungsfragmente in die Handlung eingewoben.

Was auch auffällt ist, dass trotz des Horror-Themas keinerlei Gewalt gegen Menschen oder auch Tiere ausgeübt wird! Ganz auf Gewaltdarstellung anderer Art andere Kreaturen betreffend wird aber nicht verzichtet. Diese Herangehensweise wird dem Originalwerk von Lovecraft voll gerecht, hat er meistens doch allzu drastische Gewaltdarstellungen weggelassen und eine subtilere Art der Darstellung genutzt! Der Manga stellt eigentlich mehr eine Mystery-Geschichte dar als reinen Horror. Wer viel Splatter erwartet, der ist hier nicht richtig. Ich finde Zeichnungen, Texte und die Wiedergabe der Stimmung sind vollauf gelungen! Das der Band als Manga vermarktet wird, sollte niemanden abschrecken, denn er ist angenehm zu lesen und an die bislang ungewohnte Leserichtung gewöhnt man sich schnell, im Gegenteil: Sie macht einen Teil des Reizes aus. Der Preis für das Softcover von 22,- € ist für den kleinen Wälzer mit einem Umfang von sage und schreibe 361 Seiten angemessen.

Fazit: Ich bin mittlerweile ein Fan des Zeichenstils von Gou Tanabe geworden. Auch diese Geschichte ist wieder ein Volltreffer zu einem günstigen Preis, berücksichtigt man den Umfang. Die Comic-Zeichnungen sind eine Wucht! Tanabes Adaptionen von Lovecraft-Geschichten gehören zu den großen Umsetzungen. Man darf hoffen, dass neben den bisher bei Carlsen Manga veröffentlichten Werken von Tanabe, viele weitere Bände erscheinen. Ich empfehle den Band „H. P. Lovecrafts Der Schatten aus der Zeit“ allen Lovecraft-, Horror-, Mystery- und Comic-Fans!

H. P. Lovecrafts Der Schatten aus der Zeit
Horror-Manga
Gou Tanabe
Carlsen 2021
ISBN: 978-3-551-72830-2
361 S., Taschenbuch, deutsch
Preis: EUR 22,00

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