Gruselkabinett 75: Weiß

Der junge Londoner Arzt Charles Elveston stößt bei einem Nachhauseritt zufällig auf ein merkwürdiges Anwesen. Von einer benachbarten Schänke aus beobachtet er, wie zwei völlig weiß gekleidete Männer heraustreten. Der Wirt verrät, dass nicht nur die Kleidung der Männer seltsam ist, auch das ganze Anwesen soll komplett in Weiß gehalten sein. Ein Rätsel umgibt die Familie der „weiß gekleideten Irren“ – ein Rätsel, das Elveston unbedingt lüften möchte.

von Jakob Schwarz

 

Die 75. Episode des schaurig-schönen Hörspiel-Dauerbrenners „Gruselkabinett“ vertont eine Kurzgeschichte der in Irland geborenen, später aber in Australien lebenden Mary Helena Fortune (ca. 1833 – ca. 1910), die als eine der ersten Frauen gilt, die Detektivgeschichten geschrieben haben. In 40 Jahren schrieb sie gut 500 Detektivgeschichten, wobei vor allem ihr Detektiv Mark Sinclair bekannt war, der von 1868 bis 1908 im Rahmen der Serie „The Detective’s Album“, die im „Australian Journal“ abgedruckt wurde, seine Abenteuer erzählen durfte. Mit „The White Maniac: A Doctor’s Tale“ verfasste sie eine schauerliche Variante dieser Ermittlererzählungen.

Wir befinden uns im London des Jahres 1858. Der junge, aber schon angesehene Arzt Charles Elveston stößt – wie erwähnt – per Zufall auf zwei Männer ganz in Weiß, die seine Neugierde wecken. Noch mehr wird sie angeregt, als er erfährt, dass auch das ganze Anwesen, auf dem die Männer leben und das durch eine Mauer von der Außenwelt abgeschottet ist, völlig in Weiß gehalten sein soll – bis hin zum Garten und den Fensterscheiben! Der Arzt nimmt sich vor, dieses Rätsel zu lüften, wozu er sich erst einmal von erhöhter Warte aus die Gerüchte bestätigt, und dann dem Hausherrn dieser weißen Wunderwelt heimlich nachstellt. Die Mühe hätte er sich sparen können. Der Duke de Rohan, so der Name des Besitzers des Anwesens, sucht ihn kurze Zeit später ohnehin auf. Er weiß nicht mehr weiter. Seine Verwandte ist dem Wahnsinn verfallen, und er braucht dringend Rat von einem Mann wie Elveston.

Es fällt schwer, die Episode zu bewerten, ohne vielleicht zu viel über die Handlung zu verraten. Zumal zweierlei Bewertungsmaß angebracht sind. Nimmt man „Weiß“ als simple Gruselgeschichte, so macht Mary Fortune (und auch das Team bei Titania Medien) alles richtig. Das Mysterium wird schön aufgebaut, die ganze Zeit möchte man als Zuhörer wissen, was denn nun hinter all den Merkwürdigkeiten steckt. Man wird von Elvestons Neugierde angesteckt und fiebert mit ihm. Verstärkt wird dieses Gefühl durch gelungen unheilvolle Musik und gute Sprecher, allen voran Niels Clausnitzer, der den Duke de Rohan überzeugend verzweifelt und Unheil verheißend gibt. Und Stephanie Kellner als Blanche d’Albertville liefert die vielleicht furchteinflößendste Leistung ab, die ich lange in einem Hörspiel vernommen habe. Nicht abends im Bett hören, sage ich euch! Ihr werdet danach davon träumen.

Beginnt man allerdings über die Geschichte etwas nachzudenken, offenbaren sich leider dramaturgische Lücken, die einen die Augen verdrehen lassen. So kommt Dr. Charles Elveston, von Johannes Raspe jugendlich unbekümmert und wenig respektabel gesprochen, ziemlich naiv und unprofessionell rüber. Beispielsweise fragte er Rohan weder, was den Wahnsinn der Verwandten genau auslöst, noch, wie er sich äußert. Schön, eine Farbe sei schuld, wird ihm verraten, aber um welche Farbe es sich handelt, erfährt der gute Arzt dann erst kurz vor Schluss des Hörspiels. So mangelhaft die Anamnese ist, so wenig wird über eine Therapie nachgedacht. Lieber plaudert er mit der Dame und verliebt sich dann in sie. Auch etwas unverständlich ist, warum die Dame immer in ein Zimmer eingesperrt wird, obwohl das komplette Anwesen aufwändig in Weiß gestaltet wurde (wobei das im Garten völliger Unsinn ist, denn ein Blick in den Himmel mit seinem Farbenspiel, hätte den Effekt jedes weißen Kiesgartens zunichte gemacht). Hier wurde eine Geschichte offenbar auf Spannung und einen effektvollen Schluss hin entwickelt, der gesunde Menschenverstand der Protagonisten aber dafür ausgeschaltet.

Fazit: Technisch makellos umgesetzt und eine Geschichte erzählend, die den Leser bis zum Ende gespannt auf die Auflösung warten lässt, vermag die „Gruselkabinett“-Episode „Weiß“ durchaus zu gefallen. Leider ist der Protagonist Dr. Elveston entgegen eigener Behauptungen kein sonderlich guter Arzt. Als Ermittler auf der Spur der Geheimnisse, die den Geist seiner Patientin umranken, versagt er aus banalsten Gründen jedenfalls völlig, weswegen man sich als Zuhörer irgendwann über ihn zu ärgern beginnt. Aber gut, dass die Helden in Horrorgeschichten sich meist etwas dämlich verhalten, kennt man ja aus zahlreichen Slasher-Filmen. Offenbar war das zu Mary Fortunes Zeiten auch schon so. Unterm Strich: schön schaurig, nicht ganz logisch, vier von fünf weißen Rosen.


Gruselkabinett 75: Weiß
Hörspiel nach einer Erzählung von Mary Fortune
Marc Gruppe
Titania Medien 2013
ISBN: 978-3-7857-4814-5
1 CD, ca. 66 Minuten, deutsch
Preis: EUR 8,99

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