Gruselkabinett 50: Das Gespenst von Canterville

Oscar Wilde ist ein gern gesehener Gast im „Gruselkabinett“, der durch seine „geistreichen“ Geschichten zu gefallen weiß. In „Das Gespenst von Canterville“ zeigt er auf amüsante Weise, dass auch Gespenster das Fürchten gelehrt werden kann. Denn vor was fürchten sich Gespenster? Vor Amerikanern natürlich!

von Morgath

 

Die Engländer sind ein stolzes Volk. Sie sind stolz auf ihre alte Kultur, ihre klar geregelte aristokratische Gesellschaft und ihr starren, aber perfekten Benehmensregeln. Auch die Amerikaner sind ein stolzes Volk. Sie sind stolz auf ihre neue Welt, auf ihre Demokratie und auf die errungene Freiheit, die allen ohne gesellschaftliche Schranken erlaubt zu tun und zu lassen, was sie wollen. Kurz: „Engländer und Amerikaner haben viel gemein, außer der Sprache natürlich“ (Originalzitat).

In dem vorliegenden Werk lässt Oscar Wilde beide Kulturen aufeinander treffen. Der Autor hatte als Ire begründete Vorurteile gegen Engländer und als Brite begründete Vorurteile gegen Amerikaner. Beide konnte er durch längere Aufenthalte in England und Amerika schüren. Die vorliegende Geschichte ist das Ergebnis seiner Erfahrungen mit beiden Kulturen. Als weltoffener und freiheitsdenkender Mensch schätzte Wilde im Grunde sowohl die Engländer als auch die Amerikaner, was ihn aber nicht davon abhielt, beide Kulturen in der vorliegenden Geschichte überspitzt darzustellen und regelrecht „durch den Kakao zu ziehen.“ Selbstverständlich sind alle Anekdoten und Anspielungen mit einem Augezwinkern zu verstehen, auch wenn sie viel Wahrheit beinhalten …

Doch nun zum Inhalt:

Die Familie Otis – bestehend aus den durch und durch demokratischen Eheleuten Hiram und Lucretia und ihren vier Kinder; dem erfindungsreichen Washington, der hinreißenden Virginia und den nervtötenden Zwillingen Timmy und Jimmy – zieht nach Canterville Chase, ein altes englisches Schloss, das seit über zwei Jahrhunderten einen Geist beherbergt. Bei dem Geist soll es sich um den früheren Schlossherrn Sir Simon de Canterville handeln, der, nachdem er seine Ehefrau ermordete („Wenn Sie die Kochkünste meiner Frau gekannt hätten, würden Sie mich verstehen.“) spurlos verschwand, dann aber Jahre später wieder als Gespenst erschien und seitdem das Schloss unsicher macht. Zahlreiche Nachfahren können seine Existenz bestätigen und sind Augenzeigen weiterer Untaten geworden. Als die Familie Otis – ein Fremdkörper – in das Schloss zieht, hat er nur ein Bestreben: die Familie aus dem Schloss zu vertreiben. Wer nun denkt, der Familie Otis werde das Fürchten gelehrt, der irrt gewaltig, denn die Familie ist es, die fortan das arme Gespenste piesackt und ihm den letzen Nerv raubt. Ein Beispiel gefällig? „Wenn Sie schon nachts rumspuken und mit der Kette rasseln, dann seien sie doch so gut und verwenden dieses Schmieröl aus Amerika.“ Das arme Gespenst kann einem fast leid tun, doch zum Glück hat die älteste Tochter Mitleid mit dem Gespenst und entdeckt eine Möglichkeit, wie das Gespenst erlöst werden kann. Am Ende findet dann eine Versöhnung zwischen Engländern und Amerikaner statt, welche in eine prunkvolle Hochzeit mündet.

Bei der vorliegenden Werk handelt es sich sowohl um eine spannende Erzählung für Kinder und als auch um eine amüsante Unterhaltung für Erwachsenen. Die Geschichte wird liebevoll erzählt und für Kinder spannend inszeniert. Zwar gibt es durchaus ernste und bewegende Stellen, jedoch überwiegt die lausbubenhafte Heiterkeit. Wie gewohnt weißt der Autor mit der Sprache umzugehen wie kaum ein anderer (und das selbst bei einer Übertragung ins Deutsche). Gerade die kulturellen Spannungen zwischen Engländern und Amerikanern werden trefflich in Szene gesetzt. Das Original wurde werknah in ein Hörbuch verwandelt. Die Sprecher sind – wie beim „Gruselkabinett“ üblich – hervorragend und tragen viel zur Atmosphäre bei. Von der ersten Sekunde an fühlt sich der Hörer in die viktorianische Zeit versetzt.

Fazit: „Das Gespenst von Canterville“ ist ein unterhaltsames Hörbuch für die ganze Familie, das durch seinen originellen Inhalt, die Sprachgewandtheit und die hervorragenden Sprecher zu gefallen weiß.


Gruselkabinett 50: Das Gespenst von Canterville
Hörspiel nach einer Erzählung von Oscar Wilde
Marc Gruppe
Titania Medien 2011
ISBN: 9783785744703
1 CD, 73 min., deutsch
Preis: EUR 8,99

bei amazon.de bestellen