God Country

Auf die eigenen Erinnerungen ist Verlass – denken wir. Was genau im Gedächtnis abgespeichert wird und in welcher Form sich das Gesammelte mit der Zeit verändert, ist jedoch nicht vorhersehbar. Demnach verwundern die einleitenden Worte dieses Comics keineswegs, wenn wir da lesen: „Diese Geschichte wird in meiner Familie seit vielen Generationen erzählt. (…) Ich erzähl sie, so gut ich mich dran erinnere… an das, was mir erzählt wurde.“ Was folgt, ist eine Familiengeschichte, die nur vordergründig vom titelgebenden Land Gottes handelt.

von Daniel Pabst

„God Country” ist ein 186-seitiger Comic von Donny Cates (Story), Geoff Shaw (Zeichnungen), Jason Wordie (Farben) und John J. Hill (Letters und Design). Ursprünglich erschien dieser Comic bei Image Comics im Jahre 2017. Fünf Jahre später hat es den Comic zu uns nach Deutschland verschlagen. Nun hat der Verlag Cross Cult den Comic „God Country“ nämlich übersetzt und veröffentlicht. Die Übersetzung stammt von Christian Heiß. Der Comic ist als Hardcover-Ausgabe gebunden worden und enthält am Ende einige Extras (12 Variant-Cover, Konzeptentwürfe sowie zwei Seiten, die verdeutlichen, wie aus einem Manuskript eine Comic-Seite wird).

Zu Beginn könnte man angesichts des martialischen Titelcovers denken, dass man eine Geschichte über Götter vor sich hat, in der – passend zum roten Schriftzug von „God Country“ – es allein blutrünstig zugehen wird. Dieser Eindruck wird beim Aufschlagen des Comics schnell verworfen. Denn zuerst liest man ein Zitat aus Cormac McCarthys (bekannt für den prämierten Roman „Die Straße“) „Die Abendröte im Westen“ (Originaltitel: „Blood Meridian or the Evening Redness in the West“ aus dem Jahre 1985), das mit dem Satz endet: „Ihr werdet nicht nur die schlafenden Hunde wecken“. Sodann erzählt uns ein unbekannter Erzähler oder eine unbekannte Erzählerin von einer amerikanischen Familiengeschichte, deren Abkömmling er oder sie ist.

Diese Familiengeschichte spielt bei der Familie Quinlan in Texas. Roy ist mit seiner Frau und der gemeinsamen kleinen Tochter aus Austin, der Hauptstadt von Texas, hinaus aufs Land zu seinem Vater gezogen. In einem brüchigen Holzhaus, bei sengender Hitze, umgeben von Bergen und monoton-arbeitenden Tiefpumpen fühlt sich keiner richtig wohl. Doch seitdem der Vater seine Frau verloren hat, leidet er unter Alzheimer. Und um ihm ein geregeltes und selbstbestimmtes Leben – fernab einer Klinik – zu ermöglichen, pflegt und kümmert sich das junge Ehepaar um den einsamen Mann. Eines Tages zieht ein kräftiger Sturm auf, der alles verändern wird …

Aus dem geöffneten Himmelszelt fällt ein gigantisches Schwert auf die Erde hinab – direkt in die Hände des schlafwandelnden und zunehmend verwirrten alten Mannes. Das ist aber noch nicht das Sonderbarste an alldem! Einerseits spricht das Schwert mit ihm und andererseits kehren seine Erinnerungen zurück, wenn er es in den Händen hält. Apropos „in den Händen halten“: Dass dieses meterlange Schwert sich von einem alten Mann über der Schulter tragen, hinter sich herziehen und durch die Lüfte schwingen lässt, verblüfft und verwandelt diese Geschichte in eine zauberhaft-rührende Metapher dafür, dass zu jeder Zeit im Leben (verborgene) Kräfte und Talente zum Vorschein kommen können. Es also nie zu spät ist, dafür, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen.

Mit der gleichen Entschlossenheit wie sein Sohn Roy (der den Vater nie aufgab und ihm stets zur Seite stand), lässt sich der Vater Emmett nicht mehr davon abbringen, seine wiedergewonnene Kraft gegen göttliche Herolde einzusetzen. Denn diese wollen plötzlich das Schwert aus dem irdischen Texas zurückholen! So entwickelt sich ein Kampf, der den Schwertträger immer weiter über sich hinauswachsen lässt. Dabei bleibt die Familie Quinlan im Vordergrund – sei es durch die Titelfigur Emmett Quinlan, die Entführung seiner Enkelin oder aufgrund des Überfalls auf das Holzhaus der Quinlans durch eine Armee von Untoten, die das Ehepaar Quinlan bedroht.

Ist das „Königreich Immermehr“ möglicherweise nicht weit von Texas entfernt? Die Spannungen zwischen den Generationen in der Familie Quinlan und die Kämpfe mit dem magischen Schwert, die bis in ein überirdisches Königreich führen, enthalten Motive, die man so nicht erwartet hat. Leben und Tod, Gesundheit und Krankheit, das Streben nach der Unendlichkeit und die Grenzen der Wissenschaft – das alles ist in den Comic eingeflossen. Die Zeichnungen und die Farbgebung fügen sich in diesen – teils melancholischen – Stil sehr passend ein. Dabei gelingt die innere und äußere Verwandlung des alten Quinlan am Überzeugendsten und Einprägsamsten. Man spürt quasi Seite für Seite die wiedergewonnene Lebensfreude, das dadurch empfundene Glück der Familienmitglieder, sieht wie der vormals Erkrankte gegen die (inneren) Dämonen erfolgreich ankämpft – und wünscht sich, dass eines Tages auch in der Realität an Demenz erkrankte Menschen ihre Erinnerungen wiedergewinnen werden.

Leseprobe

Fazit: Ein sprechendes Schwert, das vom Himmel fällt und die Erinnerungen zurückbringt. Wer hätte gedacht, dass „God Country“ davon erzählt? Ist das ein Märchen? Ist das eine große Metapher? Das eigene Gedächtnis wird mit diesem Comic niveauvoll angeregt und behandelt als hochaktuelles Thema den (familiären) Umgang mit Demenz. Das sorgt für Abwechslung im Bücherregal. Erstens kommt es anders, und zweitens als man denkt.

God Country
Comic
Donny Cates, Geoff Shaw, Jason Wordie
Cross Cult 2022
ISBN: 978-3-96658-798-3
186 S., Hardcover, Deutsch
Preis: EUR 25,00

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