Engel 2.0

Wir schreiben das Jahr 2656, die Welt liegt in Trümmern, getroffen von Gottes Zorn. Himmelhohe Fegefeuer fressen ihre Muster auf der Landkarte und der Herr der Fliegen schickt seine unheimliche Traumsaat gegen die Menschen. Doch die sind zum Glück nicht allein: Die angelitische Kirche beschützt sie, vor sich selbst und allem Übel, mit Hilfe der Engelsscharen. Streiter des Herrn, Kreaturen der Kirche…Feder & Schwert schreibt die zweite Edition einer ganz neuen Welt des Rollenspiels…und greift auf Altbewährtes zurück.

von nana

 

Die zweite Edition von „Engel“ ist im Grundprinzip aufgebaut wie bereits die erste. Das Regelwerk gliedert sich in zwei Bücher, die insgesamt 288 Seiten umfassen. Während der erste Teil eine Einführung in die Welt ist, behandelt der zweite Teil eher die regeltechnischen Aspekte. Allerdings kommt es immer wieder zu Überschneidungen, was nicht zuletzt auf den Charakter des Erzählspiels zurückgeht. Die Lesbarkeit leidet zum Teil durch ein etwas gewagtes Layout, dafür muss man sich allerdings auch nicht durch Bleiwüsten kämpfen. Wie auch in der Version 1.0 ist der Index eher spärlich, so dass ein Nachschlagen einzelner Fakten so gut wie unmöglich ist. Einzig das Lexikon mag dabei zum Teil helfen. Wichtigste optische Neuerung: Die alten Illustrationen und Karten wurden fast durchgehend ersetzt durch neue Werke von Tobias Mannewitz und Eva Widermann, die großartige Arbeit geleistet haben. Auch die Arkana-Karten, die es zu dem Regelwerk dazu gibt, wurden vollkommen überarbeitet.

„Engel“ ist gleich in mehrfacher Hinsicht ein außergewöhnliches Rollenspiel. Zunächst einmal ist es ein deutsches System, das sogar den kommerziellen Einstieg in Amerika geschafft hat. Zum anderen kann man das System zwar mit D20 spielen, aber dafür ist es explizit nicht vorgesehen! Stattdessen wird „Engel“ durch Erzählspiel gestaltet, indem Spieler und Spielleiter gleichermaßen versuchen, die Geschehnisse möglichst bildhaft zu beschreiben. Dafür haben die Macher ein System aus 27 Arkana-Karten geschaffen, die genau wie beim Tarot unterstützend eingreifen können, wenn man selbst keine Ideen mehr hat oder sich dem Schicksal überlassen möchte.

Der erste Teil des Buches gibt uns einen Einblick in die Welt. Nach der bereits im „Traumsaat“-Handbuch („Monster Manual“) verwendeten Methode ist das Ganze als Bericht verfasst. Statt ermüdender Ausführungen liest sich dieser Teil deswegen sehr erfrischend und die eingestreuten Anmerkungen eines offensichtlich besserwisserischen Kritikers helfen auch dem Letzten auf die Sprünge, zu erkennen, dass es in dieser Welt nicht schwarz und weiß zugeht. Bereits eingefleischte Fans wünschen sich hier womöglich dann doch etwas subtilere Hinweise, es trifft aber auf jeden Fall den Nerv, den Feder & Schwert schon seit einiger Zeit nun zu verfolgen scheint. Nebenbei erfährt der Leser also von der Struktur der Kirche, dem Leben der einfachen Menschen, dem bekannten Teil der neueren Geschichte (in 2.0 nun ergänzt um die verstrichenen 2 Jahre der Spielhandlung) und natürlich auch von dem Dasein der Engel, die von den Spielern verkörpert werden.

Engel treten immer in einer Schar auf. Dabei ist es normalerweise so, dass jeder Archetyp nur einmal vorkommt. Es besteht die Wahl zwischen Michaeliten (Anführer), Rameliten (Wissensträger), Urieliten („Pfadfinder“), Raphaeliten (Heiler) und Gabrieliten (Krieger). Darüber hinaus gibt es noch ein paar weitere Orden, die jedoch nicht oder nur in Ausnahmen gespielt werden können. Engel sind im Prinzip Kinder, also nicht geschlechtslos. Sie beginnen im Alter von ca. 12 und werden mit 16-18 Jahren zur Läuterung zu ihrer Ordensburg zurückgerufen. Diese Burgen werden Himmel genannt und sind Gebäude von einigen hundert Metern Höhe, die in verschiedenen Städten Europas stehen und von der angelitischen Kirche verwaltet werden. Diese Kirche kam zur Macht, als in Europa alles zerfallen war und das Wissen zusammen mit den Erwachsenen durch den so genannten Veitstanz ausgelöscht wurde.

Heute beherrscht die Kirche alles, ihr Oberhaupt ist Maximus Petrus Secundus und das seit über 400 Jahren. Lesen, Schreiben und vor allem Technik in jeder Form werden als „Teufelszeug“ gebranntmarkt, wer sie sich doch zu Nutze macht, als Ketzer und Anhänger des Herrn der Fliegen verfolgt. Dieser Herr der Fliegen ist eine mystische Figur, die hinter all den Angriffen durch die so genannte Traumsaat stecken soll. In ihren diversen Formen tauchen die Kreaturen der Traumsaat immer wieder auf, mal aus dem Brandland hinter den Fegefeuern, mal scheinbar aus dem Nichts und machen den Anhängern der Kirche und den Engeln das Leben schwer. Die Abenteuer, die eine Schar erleben kann, sind genauso vielfältig wie in jeder Fantasywelt. Während „junge“ Scharen vielleicht eher zu Kämpfen mit der Traumsaat neigen oder die Verfolgung von Ketzern aufnehmen werden, kommen bei Erfahrenen oft die politischen Aspekte der Welt zum Tragen beziehungsweise die Konflikte, die auch innerhalb einer Schar auftreten können.

Mit dem zweiten Teil des Buches werden die Regeln dargelegt. Die Charaktererschaffung geht schnell von der Hand, wenn man es nicht auf die D20-Regeln anlegt. Zunächst der Name, der bei allen Engeln auf -el enden muss. Dann eine kurze Beschreibung des Charakters, bei der auch Eigenschaften (positiv wie negativ) festgelegt werden sollten, um das Erzählspiel zu unterstützen. Schließlich haben die Engel auch noch besondere Eigenschaften, je nach Orden und Stufe. Es gibt drei Stufen, die man an dem auf dem Körper eintätowierten Muster ablesen kann: Signum, Sigil und Scriptura.
Einen Engel zu verkörpern bedarf etwas Einfühlungsvermögen und je länger man sich mit der Welt des „Engel“-Systems beschäftigt, desto facettenreicher kann dieses Spiel werden. Als Spielleiter nimmt man die Herausforderung an, der Gruppe genug Einblick in die Welt zu geben, um ihre Abgründe zu erkennen, und genug Geheimnisse zu bewahren, um die Spieler immer wieder mit Intrigen und Wendungen überraschen zu können. Ein Kampagnenspiel in die Zukunft der Welt freilich bleibt gewagt, da der Ausgang der vorgegebenen Storyline im besten Falle ungewiss ist.

Noch immer gibt es keine offizielle Regel, nach der es auch möglich ist, Menschen in dieser Welt zu spielen. Für Leute mit genügend Phantasie und einer gewissen Abneigung gegen Engel als Gestalt ist es jedoch sicherlich eine spannende Idee, einen Templer oder kirchlichen Entscheidungsträger zu spielen (mit dem Risiko, ein paar Dinge ein wenig anders auszulegen, als von offizieller Seite gedacht).

www.die-ketzer.de unterstützen den Fan durch ein umfangreiches „Engel“-Wiki mit Diskussionen, Geschichten, Illustrationen etc.

Fazit: Wer Endzeitstimmung mag und meint, dass Würfel und Regeln beim Rollenspiel nur Mittel und nicht Zweck sind, der wird bei „Engel“ gut aufgehoben sein. Das System bietet eine phantasievolle, intrigenreiche Welt, deren Erzählverlauf jeden, der einmal damit angefangen hat, in seinen Bann schlägt. Deswegen kommen wahrscheinlich auch solche, die bereits das erste Grundbuch besitzen, nicht umhin, sich das zweite auch noch zuzulegen, um nach den mehr oder weniger versteckten Hinweisen zum Fortgang der Geschichte zu suchen. Aus Sicht des Rollenspiels ist es jedoch sicherlich nicht nötig, sich diesen zweiten Band an Stelle des ersten zuzulegen.


Engel 2.0
Grundregelwerk
Oliver Graute, Oliver Hoffmann, Kai Meyer, Alexander Nix
Feder&Schwert 2005
ISBN: 393725529X
272 Seiten, Hardcover, deutsch
Preis: EUR 37,95

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