Die Geschichte von Kullervo

Diese Kurzgeschichte ist eine neuere Veröffentlichung einer der ersten literarischen Gehversuche von J. R. R. Tolkien. Sie ist keine Fantasy-Geschichte wie „Der Hobbit“ und „Der Herr der Ringe“ von Tolkien, sondern ein nacherzählter Mythos auf Basis der finnischen „Kalevala“-Sage, einer Sammlung alter Balladen. Einige ihrer Motive finden sich im späteren „Silmarillion“ des Autors wieder. In welcher Beziehung steht die Kurzgeschichte zum übrigen Werk von Tolkien und was bedeutet sie für den*die Leser*in?

von Markus Kolbeck

„Die Geschichte von Kullervo“ wurde 2018 auf Deutsch als Hardcover zum Preis von 22,- Euro von Klett-Cotta in der Reihe „Hobbitpresse“ veröffentlicht. Auf Englisch ist die Geschichte 2010 unter dem Titel „The Story of Kullervo“ von Verlyn Flieger herausgebracht worden. Sie muss von Tolkien bereits im Zeitraum zwischen 1912 und 1916 niedergeschrieben worden sein und steht damit am Anfang seines literarischen Schaffens. Das Buch ist 240 Seiten lang, davon entfallen nur 36 Seiten auf die Kurzgeschichte in deutscher Sprache. Die englische Originalfassung ist der jeweiligen Seite mit der deutschen Übersetzung vorangestellt und umfasst ebenfalls 36 Seiten. Es enthält auch mehrere Abbildungen von Notizen des Autors. Übersetzer ist Joachim Kalka.

John Ronald Reuel Tolkien (1892-1973)

Der Autor wurde in Bloemfontein in Südafrika geboren und wuchs in England auf. Er hat früh seine Mutter, dann auch noch seinen Vater verloren. Von 1925 war er Professor für englische Philologie in Oxford und erwarb sich als solcher einen großen Ruf über die Grenzen von England hinaus. „Das Silmarillion“, „Der Hobbit“ und „Der Herr der Ringe“ zählen zu den wichtigsten literarischen Werken von Tolkien und der heutigen Fantasy-Literatur!

Verlyn Flieger (Herausgeberin)

Die emeritierte Professorin für Englisch mit dem Forschungsschwerpunkt vergleichende Mythologie und mittelalterliche Literatur hat zahlreiche Bücher und Essays zu Tolkiens Werk veröffentlicht.

Land der Helden


Das „Kalevala“ geht auf den finnischen Völkerkundler Elias Lönnrot zurück. Er hat 1835 eine Auswahl von 25 finnischen, mythologischen Liedern getroffen, die als das „Alte Kalevala“ bekannt wurden. 1849 hat er die Gesänge auf das Doppelte erweitert, die als das „Neue Kalevala“ bezeichnet und ein Standardwerk wurden. Von Lönnrot stammt die Bezeichnung „Land der Helden“. „Die Geschichte von Kullervo“ ist keine Übersetzung davon ins Englische, sondern eine Nacherzählung und Reorganisation einiger der Motive und Handlungen. Tolkien schreibt zum „Kalevala“ von einer „grenzenlosen Bewegungs- und Schöpfungsmacht der menschlichen Phantasie“.

Inhalt

Die Kurzgeschichte beginnt damit, dass der böse Magier Untamo seinen Bruder Kalervo ermordet und dessen schwangere Frau und einen Sohn und eine Tochter zu sich in Gefangenschaft nimmt. Bei Untamo gebiert Kalervos Frau einen weiteren Sohn namens Kullervo („Zorn“) und eine weitere Tochter mit Namen Wanona („Weinen“). Außerdem gibt es noch den schwarzen Hund Musti von Kalvervo, der sich nach dem Tod seines Herrn abseits hält und dem man großes Wissen und große Magie nachsagt. Kullervo und seine Schwester Wanona sind schnell unzertrennlich und unternehmen viel gemeinsam. Kullervo wächst rasend schnell heran und wird bald stark und unbändig. Als Kind erzählt ihm seine Mutter vom Mord an seinem Vater und er schwört Rache an Untamo, was dieser vernimmt.

Untamo bekommt Angst vor dem Kind und will es ermorden! Doch Musti, der Hund, gibt Kullervo drei seiner magischen Haare, mit denen er in der Not Hilfe herbeirufen kann. Untamo versucht ihn drei Mal zu ermorden, drei Mal scheitert er und Kullervo lebt weiter dank der Hilfe durch Mustis Haarzauber. Der Knabe wächst schnell zu einem jungen Mann heran, der mürrisch, gewalttätig, zornig, bitter und unansehnlich ist. Untamo verkauft Kullervo als Sklaven an den Schmied Asemo in der Fremde. Dort nimmt die Tragödie, in die immer mehr Verse eingestreut werden, ihren weiteren Verlauf: Kullervo tötet aus Rache Asemos Frau und flieht unter dem Schutz seiner erwachten Magie. Er kann gleich einem Schamanen mit den Tieren sprechen und diesen eine andere Gestalt verleihen.

Er erinnert sich wieder voller Bitterkeit an Untamos Schandtat und macht sich auf dem Weg zurück zu dessen Heimstatt, um den Bösewicht zu töten. Unterwegs begegnet er einer schönen Frau im Wald, der er beiwohnt. Die Tragödie erreicht einen Höhepunkt! Vor den weiteren Höhepunkten der Schlussszenen endet die Geschichte unvollendet, nur zu rund Dreivierteln erzählt. Zum Glück im Unglück fasst Tolkien den Schluss der Geschichte kurzgefasst zusammen.

Neben der Geschichte auf Deutsch und Englisch gibt es noch eine Namensliste, Handlungsentwürfe und zwei Essays von J. R. R. Tolkien, ein Mal als Manuskriptentwurf („Über „Das Kalevala“ oder Land der Helden“) und ein Mal als Typoskript („Das Kalevala“). Von Herausgeberin Verlyn Flieger stammen das Vorwort, die Einleitung zur Geschichte, die Einleitung zu den Aufsätzen und drei Mal Anmerkungen und Kommentare zur Geschichte und den Aufsätzen. Außerdem gibt es noch eine Bibliographie.

Kritik

Wie schon oben erwähnt, ist „Die Geschichte von Kullervo“ keine Fantasy-Geschichte wie „Der Hobbit“ oder „Der Herr der Ringe“. Wer das erwartet, sollte umdenken oder sich etwas anderes zum Lesen suchen. Es ist wirklich keine Geschichte für Kinder, sondern eine düstere, tragische Geschichte von Blutrache, Mord, Kindesmisshandlung, Rache, Inzest und Selbstmord! Starker Stoff also! Es ist eine faszinierende Reise in die finnische Mythologie der „Kalevala“-Sage, die aus Europa stammt, aber doch so – wie Tolkien schreibt – nicht-europäisch in der Art ist.

Die Sprache von deutscher und englischer Fassung ist auf einem angenehmen Niveau angesiedelt, wenngleich sie altertümlich anmutet, was aber dem „Kalevala“ angemessen ist. Aufgrund der Kommentare und Aufsätze erfährt man vieles über die Geschichte und die Sage, auf der sie basiert. Kullervo ist nämlich ein Vorgänger von Túrin Turambar, den Tolkien auch tragisch im „Silmarillion“ anlegt. Es gibt auch noch mehr weiterentwickelte Motive wie das sprechende Schwert und den hilfreichen Hund, Musti in der Kurzgeschichte und Huan im „Silmarillion“. Die verwendeten Namen sind teilweise denen aus dem „Silmarillion“ ähnlich. „Die Geschichte von Kullervo“ ist somit ein Übungsstück von Tolkien als Mythenschreiber auf dem Weg zum Fantasy-Autor von Weltrang! Die Geschichte ist ein Mittelstück zwischen dem „Kalevala“ und dem „Silmarillion“. Er hat darin ein eigenes, neues Legendarium erschaffen!

Wie der*die Tolkien-Kenner*in weiß, hat der Autor gerne Namensvarianten ausprobiert und zum Teil unterschiedliche Namen in seinen verschiedenen Entwürfen verwendet. So ergibt sich auch hier, dass etwa Kullervo im Laufe der Geschichte mit anderen Namen bedacht wird, die unterschiedliche Stadien des Entwurfs widerspiegeln. Man erkennt aber immer, wer gemeint ist und es handelt sich auch um eine zusammenhängende Geschichte, wenn auch episodenhaft. Die Geschichte wirkt schon – trotz der unterschiedlichen Namen – wie aus einem Guss!

Wer sollte das Buch lesen? Man sollte sich auf alle Fälle für Mythologie interessieren, nicht nur in Primärquellen, sondern auch in Sekundärquellen wie den Aufsätzen von Tolkien und dem anderen reichhaltigen Material um die Geschichte herum. Man sollte auch für Tolkien ein gewisses Maß an Interesse mitbringen, und zwar für sein Gesamtwerk, nicht nur die Fantasy. Man muss aber nicht unbedingt ein Tolkien-Experte oder eine Expertin sein, um daran Freude zu haben. Jedoch sollten reine Fantasy-Fans Abstand von diesem Buch nehmen!

Fazit: Alle, die mehr von Tolkien lesen wollen, aber dabei neue Wege gehen wollen, sind hier richtig. Die Mythologie von „Die Geschichte von Kullervo“ ist faszinierend, sogar sehr dramatisch und dürfte wohl für viele Leser*innen neuartig sein. Das reichhaltige Zusatzmaterial in Form von Kommentaren und Essays macht aus der Kurzgeschichte ein vollwertiges Buch. Ich kann es allen ernsthaften Tolkien-Liebhaber*innen und Mythologie-Interessierten empfehlen!

Die Geschichte von Kullervo
Sachbuch mit Kurzgeschichte
J. R. R. Tolkien
Klett-Cotta 2018
ISBN: 978-3-608-96090-7
240 S., Hardcover, deutsch / englisch
Preis: EUR 22,00

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